„Der Kopf gibt die Bewegung frei“

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Von Michael Aust

Eine Wohnsiedlung im badischen Schwetzingen. Alle Straßen sind nach Ärzten benannt: Albert Schweitzer, Ferdinand Sauerbruch, Ignaz Semmelweis. Mittendrin: ein weißes Haus, zwei Balkone, ein Garten mit einem schneeweißen Zaun. Hier arbeitet Hans-Dieter Hermann, seit 14 Jahren der Sportpsychologe der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Jogi Löws „Mann fürs Mentale“.

An dieser Tür klingeln Fußballstars, die Millionen Zuschauer aus dem Fernsehen kennen. Was sind das für Menschen, mit denen Sie arbeiten?

Ich erlebe unsere Nationalspieler in erster Linie als Menschen, die sehr zufrieden sind mit ihrem Leben. Sie wissen um das Glück, das sie haben, und sind dafür dankbar.

Der ehemalige Nationalspieler Per Mertesacker wirkte nicht so glücklich, als er im Frühjahr in einem „Spiegel“-Interview berichtete, er habe vor jedem Spiel Brechreiz gehabt, so viel Druck habe er empfunden ...

Wir wissen aus physiologischen Messungen, dass der Spiegel an Stresshormonen bei Fußballern tatsächlich sehr hoch ist –
und das, obwohl sie zum Teil weniger trainieren und spielen als so manche Athleten aus anderen Sportarten. Bei ihnen ist allerdings das Gesamtpaket belastend: Allein die mediale Beobachtung, die dauernde öffentliche Bewertung und der sehr eingeschränkte private Spielraum, all das wirkt sich auf die Befindlichkeit aus. Dieses Stresserleben beschreiben viele, die in der Öffentlichkeit stehen. Deshalb kann ich Per gut verstehen. Allerdings: Die speziellen Symptome, die er beschreibt, haben meines Wissens nur wenige Fußballprofis.

Tatsächlich? Warum hat er sich so schwergetan?

Weil Stresserleben individuell sehr unterschiedlich zum Ausdruck kommt und er sicherlich jemand ist, der die Erwartungen von außen spürt und zusätzlich einen sehr hohen Anspruch an sich selbst hat. Als Per 2004 in die Nationalmannschaft kam, war er sehr jung und introvertiert. Er hatte gerade mal zehn Bundesliga-Einsätze absolviert, als er von Jürgen Klinsmann nominiert wurde, und schon bald stand die Weltmeisterschaft im eigenen Land an. Das war schon viel auf einmal, was da auf ihn zukam. Dennoch: Per spielte dann bei der WM so gut, er hat nahezu keine Zweikämpfe verloren und keine Fehler gemacht.

Wie arbeiten Sie eigentlich mit dem DFB-Team?

Ich bin Teil des Betreuerstabs und sorge sozusagen dafür, dass der Kopf mitspielt. Dafür gibt es Einheiten auf dem Platz mit sportpsychologischem Inhalt, psychologische Trainingsformen als Trainingseinheit, Teambuilding-Maßnahmen oder auch Eins-zu-eins-Gespräche, die immer freiwillig sind. Eine Trainingsform ist zum Beispiel das mentale Training. Eine sehr effektive Methode, um Bewegungsabläufe oder Spieltaktiken einzuüben, da man Spielzüge vor dem geistigen Auge ablaufen lassen kann, ohne dass man dabei auf dem Platz stehen muss. Das lässt sich auch gut mit Videositzungen vor dem Training koppeln. Wenn ein Spielzug dann später praktisch auf dem Platz eingeübt wird, hat man ihn richtig verankert.

Also alles eine Frage des Kopfes?

Oder spezieller ausgedrückt: der Psyche. Die kommt immer dann ins Spiel, wenn es keine Automatismen gibt oder sie nicht funktionieren. Wir haben ja von allen Bewegungen mentale Abbilder im Gehirn. Wenn die blockiert sind, wird es schwierig. Der Kopf muss die Bewegung freigeben.

In Ihren Büchern sprechen Sie von Kompetenzerwartung – der Überzeugung, dass man eine Aufgabe auch schaffen kann. Wie stärkt man die?

Durch positive Erfahrungen, die man macht, wenn man sich auch schwierigen Aufgaben stellt. Wichtig sind die Führungskräfte, im Sport sind das die Trainer. Aber auch ein Oberarzt im OP kann in der Art seines Coachings – durch Lob, Korrektur, Verantwortungsübergabe – seine jungen Kollegen dazu bringen, dass sie sich selbst mehr zutrauen.

Wie sind Sie eigentlich bei der Sportpsychologie gelandet? Ihr erstes Studienfach war doch Medizin.

Damals war der Run auf die Medizinplätze so groß, dass ich für mein Studium nach Belgien gegangen bin. Zur Psychologie wollte ich eigentlich nur übergangsweise wechseln, um zurück nach Deutschland zu kommen. Dann hat mich das Fach fasziniert. Nebenbei war ich – wenn ich ehrlich bin – auch nicht unfroh. Ich hatte damals als Praktikant in Krankenhäusern schon einige Erfahrungen gesammelt, die mich nachdenklich gemacht haben, ob die Medizin wirklich mein Fach ist.

Als was haben Sie dort gearbeitet?

Als eine Art Hilfspfleger auf diversen Stationen, als Sitzwache in der Nacht und wenn ich ganz viel Glück hatte, durfte ich auch mal im OP Haken halten. Begrifflich war meine Tätigkeit als „unsteriler Springer“ das Highlight.

Für die Teams, mit denen Sie arbeiten, geht es letztlich immer um Erfolg. Wie geht man eigentlich mit Misserfolgen um – spricht man darüber? Oder lässt man die gedanklich besser nicht zu viel Raum einnehmen?

Da gibt es verschiedene Lehrmeinungen. Es gibt Trainer, die fokussieren immer nur auf das Positive, quasi die amerikanische Schule. Dabei sind Misserfolge – zumindest psychologisch gesehen – eine tolle Geschichte, um daraus zu lernen. Ein typisches Beispiel war das 4 : 4 der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Schweden im Qualifikationsspiel zur WM 2014. In der Halbzeit stand es 3 : 0 für uns, dann haben die Schweden beim Stand von 4 : 0 rund um die 60. Minute das Spiel gedreht. Jogi Löw hat danach verbal nicht auf die Jungs draufgehauen, sondern zugehört und gefragt: „Was ist hier passiert?“ Als wir dann bei der WM einen ähnlichen Vorsprung hatten ...

... gegen Brasilien im Halbfinale ...

... hat die Mannschaft es besser gemacht und 7 : 1 gewonnen. Ohne die Blaupause des Schweden-Spiels wäre das vielleicht anders gelaufen.

Was haben die Spieler denn anders gemacht?

So banal es klingt: Sie haben völlig unabhängig vom Spielstand nur immer wieder das nächste Tor machen wollen.

Die Vision für die WM 2018 heißt Titelverteidigung. Wie motiviert man Weltmeister, die alles erreicht haben?

Pardon, eine kleine Korrektur: Das Ziel für Russland ist, den WM-Pokal nochmals zu holen. Motiviert werden muss außerdem niemand in der Mannschaft, die Leistungsdichte ist hoch, das System pusht sich selbst. Aber natürlich kann man etwas für die Inspiration tun: Hier geht es um gruppendynamische Prozesse, die wir unterstützen. Viel hängt auch von der Rhetorik des Trainers ab: Was sagt er wann zu wem, was zur Mannschaft? Letztlich ist aber auch viel Intuition gefragt, das Gespür, dass es dieser Worte exakt in diesem Augenblick bedarf. So wie der Satz, den Jogi Löw im WM-Finale 2014 zu Mario Götze bei dessen Einwechslung gesagt hat: „Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi!“ Das war spontan, das hat gewirkt. Das war Jogi, wie ich ihn kenne.

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