Frau Dr. Groß, Frauen sind in unserer modernen Gesellschaft doch längst gleichberechtigt. Wozu braucht es denn heutzutage noch Frauennetzwerke? Frauen sind im beruflichen Alltag häufig als Einzelkämpferinnen unterwegs. In Sachen Vernetzung haben sie also noch erheblichen Nachholbedarf gegenüber Männern. Und mit der Gleichberechtigung ist es übrigens auch nicht so weit her, wie Sie vermuten. Spätestens, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht, liegt noch ein weiter Weg vor uns – 100 Jahre mindestens.
Sie übertreiben maßlos ...
Keineswegs. Im Gegensatz etwa zu den skandinavischen Ländern sind wir in Deutschland immer noch stark in traditionellen Rollenklischees verhaftet.
Woran liegt das?
Unter anderem daran, dass Frauen oftmals nicht so selbstbewusst auftreten wie Männer. Wenn es zum Beispiel um die Bewerbung um eine Führungsposition geht, klopfen Frauen die geforderten Qualifikationen Punkt für Punkt ab. Ist nur eine Anforderung dabei, von der sie glauben, sie nicht erfüllen zu können, bezweifeln sie, dass sie qualifiziert genug sind. Das passiert Männern in aller Regel gar nicht erst.
Wie lässt sich das ändern?
Gutes Mentoring ist enorm wichtig, um Frauen immer wieder zu ermuntern, Verantwortung zu übernehmen. Auch eine zumindest zeitweise eingesetzte Frauenquote kann sinnvoll sein – in dem Sinne, dass sie hilft, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Freiwillige Verpflichtungen haben in der Vergangenheit leider nur sehr wenig gebracht. Von einer paritätischen Besetzung, das haben Studien längst ergeben, profitieren dann nicht nur die Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft. Ich bin auch selbst zutiefst davon überzeugt, dass langfristig die beste Arbeit dort geleistet wird, wo genauso viele Frauen wie Männer arbeiten.
Sie sind Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB). Wie steht es denn um die Gleichberechtigung von Frauen im Gesundheitswesen?
Nicht viel anders als in der übrigen Berufswelt auch. Zwar liegt der Anteil der weiblichen Studierenden in der Humanmedizin mittlerweile bei über 60 Prozent. Schaut man in die Chefarzt-Etage oder in die Führungsgremien von Berufsverbänden, sieht die Welt jedoch ganz anders aus. Daran arbeiten wir im Deutschen Ärztinnenbund zum Beispiel durch einen Ausbau des DÄB-Mentorinnen-Netzwerks, aber auch durch stärkere Interventionen bei der Standes- und Gesundheitspolitik. Bisher lag der Fokus unserer Veranstaltungen klar auf dem wissenschaftlichen Diskurs und auf ethischen Fragen in der Medizin. Das wollen wir zum Beispiel mit zusätzlichen aktuellen Serviceangeboten ändern, um die Wahrnehmung des Verbands bei Frauen und Männern zu stärken.
DR. MED. CHRISTIANE GROSS, 64, M. A., ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und ärztliches Qualitätsmanagement. Seit 2015 ist sie Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes.