SUIZID AUF REZEPT?

Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das Verbot organisierter Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt. Der Bundestag muss den ärztlich assistierten Suizid damit neu regeln. Wie sehen Medizinerinnen und Mediziner die Beihilfe zur Selbsttötung?

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PROF. DR. JOHANNA ANNESER

Insbesondere schwerstkranke Palliativpatienten sollten beim Zugang zum ärztlich assistierten Suizid keine unzumutbar hohen Hindernisse überwinden müssen. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde festgestellt, dass es zum Menschenrecht auf Selbstbestimmung gehört, seinem Leben ein Ende zu setzen und dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich habe Menschen kennengelernt, die palliativmedizinisch optimal versorgt waren und deren Leiden trotzdem so groß war, dass ich den Suizidwunsch nachvollziehen konnte und auch unterstützt hätte, wenn es entsprechende Rahmenbedingungen dafür gegeben hätte. Es ist wichtig, hospizliche und palliativmedizinische Angebote weiter auszubauen, jedoch wird es auch bei einer optimalen Versorgung den Wunsch nach assistiertem Suizid nach wie vor geben: Die Niederlande haben eines der besten palliativmedizinischen Angebote der Welt. Trotzdem wünschen sich viele Menschen dort assistierten Suizid oder die Tötung auf Verlangen. Ob jemand mit einer Erkrankung weiterleben möchte oder nicht, ist letztlich eine sehr individuelle Frage. Ich wünsche mir nun eine vernünftige und transparente Regelung. Die Betroffenen müssen hierbei umfassend über ihre Krankheitssituation und die Möglichkeiten, ihre Symptome zu lindern, informiert werden. Weiter ist zu prüfen, ob eine freiverantwortliche Entscheidung zu einem Suizid dauerhaft besteht. Bei solch einem Beratungsgespräch sollte – soweit es Suizidwillige mit einer schweren Erkrankung betrifft – unbedingt ein Arzt oder eine Ärztin dabei sein, weil wir die Krankheitssituation und die Behandlungsmöglichkeiten am besten einschätzen können. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Patienten diese Überlegungen uns gegenüber überhaupt äußern und man so ins Gespräch kommen kann. Ich sehe daher die Beihilfe zum Suizid als ärztliche Aufgabe: Wir können Gespräche in einem geschützten Vertrauensverhältnis führen, wissen um die jeweilige Erkrankung und kennen die Anwendung, Wirkung und Nebenwirkung von Medikamenten.


 

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PROF. DR. LUKAS RADBRUCH

Ich befürchte, dass eine Regelung des ärztlich assistierten Suizids dazu führen könnte, dass sich Kolleginnen und Kollegen nicht kritisch genug mit der individuellen Situation der Patienten auseinandersetzen. Meine Erfahrung ist, dass Menschen, die um Beihilfe zum Suizid bitten, dies oft gar nicht wirklich wollen. Deswegen sollten wir viel mehr auf Suizidprävention setzen. Wenn Menschen in unserer Klinik nach Beihilfe zur Selbsttötung fragen, sprechen wir mit ihnen über ihre Ängste und über mögliche Alternativen – denn die gibt es immer. Viele Menschen haben zum Beispiel große Angst vor Schmerzen oder vor Atemnot. Beides können wir bis in die letzten Lebensstunden gut lindern und zur Not eine palliative Sedierung vornehmen. Viele Patienten wissen auch gar nicht, dass sie ein Recht darauf haben, jede von ihnen nicht mehr gewünschte Therapie, auch lebenserhaltende Maßnahmen wie eine Beatmung oder Dialyse, jederzeit beenden zu lassen. Wir sprechen auch offen mit unseren Patienten über Sterbehilfevereine oder über die Entscheidung, nicht mehr zu essen und zu trinken und damit das Leben eigenständig zu beenden. Wir machen oft die Erfahrung, dass Menschen nach einem solchen Gespräch und nach einiger Zeit von ihrem Suizidwunsch abrücken und die Zeit, die ihnen noch bleibt, durchaus genießen können. Außerdem gehört die Beihilfe zum Suizid meines Erachtens nicht zu den ärztlichen Aufgaben. Deshalb sehe ich sie kritisch. Da aber mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ohnehin eine Regelung zu erwarten ist, würde ich mir eine wünschen, die zumindest viel Zeit und mehrere Beratungsgespräche vorsieht, in denen eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut wird und in denen alle Alternativen aufgezeigt werden. Wichtig wäre dabei, dass die Beratungsgespräche, die Begutachtung der freien Entscheidungsfähigkeit und die Durchführung der Beihilfe durch unterschiedliche Personen erfolgen. Darüber hinaus plädiere ich für eine ethische Beratung für jeden Patienten, der Beihilfe zum Suizid wünscht, und für eine stärkere Suizidprävention.