MEDIZINSTUDIUM 4.0

OP-Robotik, künstliche Intelligenz, elektronische Patientenakte: Der Gesundheitsbereich steckt mitten in einem digitalen Wandel. Um angehende Ärztinnen und Ärzte dafür fit zu machen, muss auch das Medizinstudium digitaler werden.

Von Carolin Diel - Fotos: Dominique Wollniok

ROBOTIK ZUM ANFASSEN: Informatiker Alexander Linde lässt die Medizinstudierenden in seinem Workshop einmal selbst einen Roboter programmieren.
Robotik zum Anfassen: Informatiker Alexander Linde lässt die Medizinstudierenden in seinem Workshop einmal selbst einen Roboter programmieren.

Ein wenig sieht es so aus, als würden die Medizinstudierenden der Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg „Blindekuh“ spielen. Jana Babka steht in der Mitte des fast leeren Raumes, tastet sich unbeholfen mit ihren Füßen vorwärts, die Arme vor sich ins Leere gestreckt, die Augen verdeckt. Ihre Kommilitonen stehen im Halbkreis um sie herum. Babka steckt in einem Simulationsspiel. Eine Leinwand hinter ihr zeigt, was die Medizinstudentin durch die Virtual-Reality(VR)-Brille auf ihrem Kopf sieht: Sie steht in einem Schockraum, neben ihr liegt ein instabiler Patient. Blutdruck: 90/50. Mit einem Griff in die Luft bringt sie einen Infusionsbeutel an. Durch einen Klick mit dem Controller spritzt sie ein Medikament. Der Blutdruck steigt langsam. Der virtuelle Patient stabilisiert sich. Babka nimmt die Brille ab.

VR, elektronische Patientenakte (ePA), Robotik – das deutsche Gesundheitssystem steckt mitten im digitalen Wandel. Doch um den Ärzten-Nachwuchs dafür fit zu machen, müssen auch in dessen Ausbildung digitale Kompetenzen vermittelt werden. Der Deutsche Ärztetag stellte diese Forderung bereits 2019, und auch die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) macht sich dafür stark. Trotzdem bieten längst nicht alle medizinischen Fakultäten in Deutschland Lehrveranstaltungen mit digitalen Inhalten an – und wenn, oft nur als Wahlfächer.

 

 

ÜBERALL ANDERS

Die Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg war in dieser Hinsicht einer der Vorreiter. 2020 führte die medizinische Fakultät als erste Deutschlands ein verpflichtendes Digitalisierungs-Curriculum ein. „Der digitale Wandel wird das Rollenbild des Arztes verändern“, sagt Christiane Ludwig, die das Curriculum in Halle ausgearbeitet hat. Künstliche Intelligenz und Robotik übernehmen Routineaufgaben und helfen bei der Entscheidungsfindung im Praxis- und Klinikalltag. Patienten kommen durch „Dr. Google“ und maschinell trainierte Chatbots wie ChatGPT einfacher an Informationen und werden mit Hilfe von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) zu aktiven Partnern in der Therapie. „Der Arzt wird immer mehr zum Berater“, so Ludwig. Das Curriculum soll die Medizinstudierenden auf diese neue Rolle vorbereiten, Kompetenzen vermitteln und Grundlagenwissen mitgeben, um die Qualität der Daten und Informationen bewerten zu können.

Einheitliche Leitlinien, welche Kompetenzen die Studierenden konkret erlernen sollen, gibt es in Deutschland bisher nicht. Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog für das Medizinstudium wird dahingehend seit 2019 überarbeitet – konkrete Ergebnisse sind erst 2025 zu erwarten. Dementsprechend unterschiedlich sind die digitalen Fächer an den Universitäten aufgebaut. Sie reichen vom einwöchigen Überblicks- Kurs bis zu themenspezifischen Vorlesungen. In Halle durchlaufen die Studierenden im zweiten Semester zunächst die Vorlesungsreihe „digitalisierte Berufsfelderkundung“ und haben zusätzlich einen Praxistag, an dem sie in fünf 45-minütigen Workshops einen Einblick in die Bereiche Robotik, ePA, DiGAs, 3D-Druck sowie virtuelle und erweiterte Realitäten bekommen. Im fünften Semester sollen darauf aufbauend weitere Lehrveranstaltungen stattfinden, die sich gerade in Planung befinden. Und auch die bereits etablierte Vorlesungsreihe ist noch „Work in Progress“. Denn neben den fehlenden Leitlinien mangelt es bei der Umsetzung oftmals an Zeit.

 

ALEXANDER LINDE bringt den Service-Roboter Pepper als Anschauungsmaterial mit in seinen Kurs.
Alexander Linde bringt den Service-Roboter Pepper als Anschauungsmaterial mit in seinen Kurs.

GRETEL TANZT

Alexander Linde kennt dieses Problem. Der Informatiker leitet in Halle den Robotik- Workshop. Die Medizinstudierenden sollen die humanoiden Roboter Hänsel und Gretel zum Tanzen bringen, indem sie ihnen Sprachbefehle einprogrammieren. „Darf ich Sie unterhalten?“, fragt Gretel freundlich-mechanisch. „Ja“, antwortet eine Medizinstudentin. Keine Reaktion. Sie probiert es lauter. „Gretel hat eventuell eine Tendenz zu männlichen Stimmen“, erklärt Linde entschuldigend. Nach ein paar weiteren Versuchen in verschiedenen Stimmlagen hat die Studentin doch noch Erfolg. Saxophonmusik ertönt, Gretel tanzt. Die Übung habe mit echtem Programmieren natürlich wenig zu tun, und tief eintauchen in die Materie könne man aus Zeitgründen auch nicht, erklärt Linde. Er fokussiert sich daher aufs Sensibilisieren. „Die Studierenden sollen verstehen, dass bei Medizinrobotik nicht einfach Informatiker Dinge programmieren, sondern die Mitarbeit der Mediziner gefragt ist. Sie sind schließlich die Anwender“, so Linde.

Mehr als an der Oberfläche kratzen kann man bei den digitalen Themen in der Regel kaum. Denn das Medizinstudium ist ohnehin mehr als voll. In Halle mussten dem Lehrplan drei Stunden aufgeschlagen werden, bei einem anderen Fach wurden Stunden gekürzt. Mit dem Einführen zusätzlicher Fächer ist es zudem bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen nicht getan. Auch in den Klinik- und Praxiseinheiten müssen immer wieder digitale Aspekte thematisiert werden. Nur so gelingt der Transfer von der Theorie in die Praxis – und jener von der Uni in die Kliniken und Praxen.

Hier sieht Dr. Dietrich Stoevesandt, Leiter des Dorothea-Erxleben-Lernzentrums, an dem das Digitalisierungs-Curriculum in Halle betreut wird, den kritischen Punkt: „Die Studierenden kommen nach der Uni in der Regel in einen ‚Alte Männer‘-Club, der meint, schon die besten Werkzeuge für seinen Beruf gefunden zu haben. Ihre Aufgabe besteht dann darin, diese Männer von neuen, digitalen Werkzeugen zu überzeugen.“ Er sieht die Studierenden als „Digital Changemaker“, als Treiber des digitalen Wandels. Nur so könne dieser gelingen.

Aber sehen die Studierenden sich auch selbst so? Das Engagement des bvmd in Sachen digitale Lehre legt nahe: ja. Auch die Studierenden in Halle sehen sich in einer gewissen Pflicht. „Auf die Digitalisierung vorbereitet zu sein, ist unfassbar wichtig“, sagt Student Jakob Klemm. „Bei älteren Medizinern ist die Bereitschaft, digitale Kompetenzen zu erwerben, tendenziell geringer. Also müssen wir bereit sein.“ Allerdings sind viele Studierende auch skeptisch, inwiefern die im Studium vorgestellten digitalen Tools im Joballtag wirklich Mehrwert statt nur Mehraufwand bringen. Denn nur weil es sich bei der jetzigen Studentengeneration um „Digital Natives“ handelt, herrscht dort keineswegs blinde Technikbegeisterung. Mit Spielereien lässt sich die Gen Z wenig beeindrucken. Digitale Tools müssen mit Bedienerfreundlichkeit und konkretem Nutzen überzeugen. Das größte Potenzial sehen die Studierenden in der Lehre. Besonders in Anwendungen wie der Schockraum- Simulation. „Am Anfang war es schon etwas gewöhnungsbedürftig mit der VR-Brille“, gibt Studentin Jana Babka zu. „Aber ich könnte mir vorstellen, so etwas nochmal zu machen, um Abläufe zu üben – vor allem dann, wenn ich mir im Laufe des Studiums mehr Medizinwissen angeeignet habe.“


PROF. DR. SEBASTIAN KUHN ist Professor für Digitale Medizin an der Philipps-Universität Marburg und Direktor des Instituts für Digitale Medizin Universitätsklinikum Gießen- Marburg. PROF. DR. SEBASTIAN KUHN ist Professor für Digitale Medizin an der Philipps-Universität Marburg und Direktor des Instituts für Digitale Medizin Universitätsklinikum Gießen- Marburg.
PROF. DR. SEBASTIAN KUHN ist Professor für Digitale Medizin an der Philipps-Universität Marburg und Direktor des Instituts für Digitale Medizin Universitätsklinikum Gießen- Marburg.

„Hohe Dynamik“

Prof. Dr. Sebastian Kuhn ist Experte für Digitalisierung in der Medizinausbildung und hat bereits mehrere Universitäten bei der Integration digitaler Lehrinhalte begleitet.

Warum fällt es Universitäten so schwer, die Vermittlung digitaler Kompetenzen ins Medizinstudium zu integrieren?

Die Vermittlung digitaler Kompetenzen hat keine Zugehörigkeit zu einem einzelnen Fach. Es geht außer um die Auseinandersetzung mit medizinischen Fragen auch um technische, rechtliche und ethische Aspekte. Es handelt sich um ein übergeordnetes Thema, bei dem der Weg zum Erfolg in der Zusammenstellung eines interdisziplinären und interprofessionellen Teams besteht. Daneben zeigt das Themenfeld aktuell eine sehr hohe Dynamik. Unterrichtsinhalte müssen also kontinuierlich aktualisiert und weiterentwickelt werden. Einzelne Standorte können hierbei überfordert sein, weshalb wir eine Zusammenarbeit und einen Austausch zwischen den Universitäten fördern müssen.

 

Welche Fähigkeiten sollten vorrangig vermittelt werden?

Wir müssen die Studierenden befähigen, den digitalen Wandel selbst aktiv mitzugestalten. Dabei geht es nicht darum, angehende Ärzte zu Programmierern zu machen. Wir müssen ein Grundwissen über ärztliches Handeln mit neuen Werkzeugen – den digitalen Tools – vermitteln. Den Studierenden also die Möglichkeiten zeigen, aber auch die Limitationen. Am Ende sollen sie bewusst entscheiden können, wann sie im ärztlichen Werkzeugkasten zum digitalen Tool greifen – und wann nicht. Wichtig ist dabei auch, zu verstehen, dass sich das Arzt-Patienten-Verhältnis wandelt. Patienten werden zu Experten ihrer eigenen Gesundheit. Daher ist es auch sinnvoll, Patienten zu bestimmten Themen als Dozierende einzusetzen, zum Beispiel, wenn es um digitale Gesundheitsanwendungen beim Tracking chronischer Erkrankungen geht.

 

Wie wird in Ihrer Vorstellung das Medizinstudium in zehn Jahren aussehen?

Wir werden weggehen vom Memorieren, dem Auswendiglernen, und klassische – sehr menschliche – ärztliche Fähigkeiten wie kommunizieren, sehen, fühlen und hören wieder stärker in den Fokus rücken. Der kompetente Umgang mit digitalen Tools soll diese Arbeit ganz natürlich ergänzen.