Mit der Covid-19-Pandemie ist der Begriff Triage plötzlich greifbar geworden. Niemand möchte entscheiden müssen, welches Leben gerettet werden kann. Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber jetzt Vorkehrungen treffen – und das ist alles andere als einfach.
Von Maike Gröneweg
Die Notaufnahmen in Bergamos Krankenhäusern platzen aus allen Nähten. Intensivbetten reihen sich behelfsmäßig aneinander, manche Patientinnen und Patienten finden nur noch Platz auf den Krankenhausgängen oder in den Badezimmern. Bilder wie diese gingen im Frühjahr 2020 um die ganze Welt. Es fällt der Begriff „Triage“: Ärztinnen und Ärzte mussten entscheiden, wer weiter intensivmedizinisch behandelt wird – und wer nicht. Auch in Deutschland machte sich die Sorge breit, die Ressourcen könnten knapp werden. Wäre das Alter entscheidend? Oder die Dringlichkeit? Schon 2013 hatte das Robert-Koch-Institut ein Pandemie-Szenario entwickelt und in einer Fußnote empfohlen, sich rechtzeitig zu überlegen, wie man knappe Gesundheitsressourcen verteilen würde. Das ist damals nicht passiert. Zwar ist es in Deutschland zu keiner harten Triage gekommen, doch hat die Pandemie die Diskussion um eine verbindliche Regelung angestoßen.
Bereits im März 2020 veröffentlichten acht Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Leitlinien für Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Pandemie. „Wir wollten den Umgang bei knappen Ressourcen so regeln, dass möglichst wenige Menschen sterben müssen. Dazu muss man die Zuteilung nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht organisieren“, erklärt Prof. Dr. Georg Marckmann, Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). Das bedeute, physiologische Parameter zu nutzen, um vorherzusagen, wie erfolgreich die Intensivtherapie voraussichtlich sein wird – berücksichtigt werden dabei unter anderem Vorerkrankungen und der allgemeine Gesundheitszustand der Betroffenen.
„Das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht zwingt die Verantwortlichen dazu, jede Situation individuell zu beurteilen“, sagt Marckmann. Aus medizinethischer Sicht sei das die fairste mögliche Lösung – und weitaus gerechter als das Losverfahren, das in der Diskussion um eine Regelung oftmals angeregt wird. Diesem steht der Medizinethiker mehr als skeptisch gegenüber: „Mit dem Losverfahren würden zwar alle formal gleichbehandelt. Gleichzeitig wird aber die Tragik größer, wenn Menschen mit guten Erfolgsaussichten keine Behandlung bekommen, nur weil sie Pech in der Lotterie hatten.“ Gleichzeitig würden insgesamt mehr Menschen sterben, weil Patienten mit einer schlechten Prognose über Monate ein Intensivbett belegen und schließlich trotzdem sterben könnten, so Marckmann. Ähnlich verhalte es sich, würde man die Personen vorrangig behandeln, die zuerst da waren.
Und doch ist das zentrale Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht umstritten. Insbesondere Menschen mit Behinderungen sehen darin Mängel. Der Vorwurf: Die Gebrechlichkeit und Komorbidität der Patienten, die man zur Beurteilung heranziehe, würden Menschen mit Behinderungen strukturell diskriminieren – und sie im Fall einer Triage benachteiligen. „Für Menschen mit Behinderung sind diese Triage-Empfehlungen […] ein Alptraum. Denn hinreichend unscharf formuliert, dafür zugleich voll von Diskriminierung, dient der Leitfaden als Einfallstor, um sich im Zweifelsfall gegen das Leben eines Menschen zu entscheiden, nur weil er eine Behinderung hat“, schreibt der Behindertenaktivist Raul Krauthausen auf seinem Blog. Gemeinsam mit acht weiteren Betroffenen zieht er im Juli 2020 mit einer Beschwerde vor das Bundesverfassungsgericht und fordert eine gesetzliche Regelung, nach welchen Prinzipien knappe Ressourcen verteilt werden, ohne Personengruppen zu übergehen. Im Dezember 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht, der Gesetzgeber habe Vorkehrungen zu treffen, die eine Benachteiligung behinderter Menschen in einer Triage-Situation vermeiden.
Doch eine gesetzliche Regelung, die ethisch und rechtlich haltbar ist, muss erst einmal gefunden werden. Die Formulierungshilfe des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die im März 2022 vorgelegt wurde und die die Koalitionsfraktionen im Gesetzentwurf unterstützen sollte, hält am umstrittenen, vom Bundesverfassungsgericht aber nicht beanstandeten Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht der DIVI-Empfehlungen fest. Gebrechlichkeit und Komorbidität dürfen demnach allerdings nur berücksichtigt werden, wenn sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Behindertenvertretungen sehen darin keinen Fortschritt gegenüber den DIVI-Richtlinien und kritisieren die fehlende Einbeziehung der Expertise der Behindertenverbände und Selbstvertretungsorganisationen.
Dass es nicht einfach ist, eine faire verbindliche Richtlinie zu formulieren, weiß auch Prof. Dr. Sven Bercker, Facharzt für Anästhesiologie und Vorsitzender des klinischen Ethikkomitees am Universitätsklinikum Leipzig. „Diese Leitlinien und Empfehlungen zur Triage, auch die der DIVI, sind nie so scharf gefasst, dass man bei einer Patientin oder einem Patienten eine eindeutige Entscheidung treffen kann“, erklärt er. Genauso schwer sei es, das in einen Gesetzestext zu gießen. Das zeige sich auch am „Weichenstellerexperiment“: Ein außer Kontrolle geratener Zug droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche könnte der Zug aber auf ein anderes Gleis umgeleitet werden – dort befindet sich nur eine Person. Intuitiv halten die meisten Menschen es für richtig, die Weiche umzustellen und den Tod einer Person für die Rettung der anderen fünf in Kauf zu nehmen. „Wenn wir uns jetzt aber aussuchen könnten, ob drei ältere Menschen mit fortgeschrittenem Karzinom gerettet werden sollen oder ein einzelnes Schulkind, sähe die Entscheidung wahrscheinlich anders aus. Das zeigt vor allem, dass die Entscheidung eine emotionale Komponente hat“, sagt Bercker. Es sei ein gutes Prinzip, den Wert von Leben nicht gegeneinander aufzuwiegen, aber das gelinge nicht immer. „Aber natürlich wünsche ich mir eine gesetzliche Grundlage, um hier eine inhaltliche Hilfestellung zu bekommen“, so der Mediziner, „ich glaube nur, das dahinterstehende Prinzip ist gar nicht formulierbar.“
Noch schwieriger wird es, wenn man bereits beatmete Patienten in die Entscheidung miteinbezieht – denn das bedeutet, jemandem nicht nur Zugang zu einer Behandlung zu verweigern, sondern eine bestehende Behandlung aktiv zu beenden: „Es gibt zwei Arten von Patienten, die um die Behandlung konkurrieren: die, die schon beatmet werden und die, die eine Beatmung brauchen. Da stellt sich die Frage, ob man Patienten von der Beatmung nehmen darf, um Personen mit besserer Erfolgsaussicht zu behandeln“, erklärt Marckmann. Als im Mai kurzzeitig vermeldet wurde, das BMG erwäge in einem Gesetzentwurf diese sogenannte Ex-post-Triage, entfachte das erneut eine heftige Diskussion: Strafrechtlich könnte es sich beim Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung um Totschlag handeln. Der Vorschlag wurde auch von den Koalitionsfraktionen kritisiert. Auch Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach ruderte zurück: Eine Ex-Post-Triage sei ethisch nicht vertretbar und eine Zumutung für Ärztinnen, Ärzte, Patientinnen, Patienten und deren Angehörige. „Ethisch gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, die Patienten am Beatmungsgerät und solche mit Beatmungsbedarf in einer Triage unterschiedlich zu behandeln“, sagt hingegen Marckmann. Eine gesetzliche und konsensfähige Regelung zur Triage ist nicht in Sicht. So bleibt einstweilen nur zu hoffen, dass die Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems auch künftig ausreichen, um Situationen wie in Bergamo zu verhindern.