Medizinische Ideenfabrik

Apps auf Rezept und eine durch die Corona-Pandemie beschleunigte Digitalisierung in fast allen Lebensbereichen. Boomt jetzt die Start-up-Szene im Gesundheitsbereich?

MySugr ist ein Paradebeispiel: 2017 wurde das Wiener Start-up, das eine Diabetes-App entwickelt hat, vom Pharmakonzern Roche gekauft. Vermutet wird ein Kaufpreis zwischen 70 und 200 Millionen Euro. Seit Oktober 2020 sind zudem die ersten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Deutschland offiziell zugelassen. Es herrschen also optimale Aussichten für Start-ups in der Gesundheitsbranche – oder?

„Die Voraussetzungen für Gründer sind in den vergangenen Jahren sicherlich besser geworden“, sagt David Krüsemann, Vorstand der apoBank-Tochter naontek und zugleich Mediziner mit Start-up-Erfahrung. Krüsemann, der neben seinem Medizinstudium selbst wissenschaftlich und kommerziell Software entwickelt hat, war vor seinem Wechsel zur naontek AG bei der Beteiligungsgesellschaft Heartbeat Labs tätig. „Wir leben im ‚Biological Century‘ – einer Spirale aus neuen biologischen Erkenntnissen und Technologien. Die Medizin macht gerade enorme Sprünge, was natürlich auch Chancen für Gründer mit sich bringt. Hier vorn mitzuspielen ist allerdings ausgesprochen anspruchsvoll“, so Krüsemann. Neue Ansätze in der Bio- und Medizintechnik erfordern eine Kombination aus wissenschaftlicher Expertise und technologischen Kompetenzen. „Die Gründer von Durchstartern wie BioNTech oder Centogene kommen aus der Spitzenforschung – der OP-Roboter der nächsten Generation wird sehr wahrscheinlich nicht in einer Garage ausgetüftelt.“

Im Normalfall starten Gründer eine Nummer bodenständiger – zum Beispiel mit einer Anwendung, die bei der Praxisorganisation oder Therapien unterstützt. So wie Henrik Emmert, einer der drei Gründer von aidhere und Pionier im DiGA-Bereich.

Emmert ist studierter Wirtschaftsingenieur und bringt jahrelange Erfahrung als Unternehmensberater mit – und die lange in ihm gereifte Idee, eine Therapie-App für Adipositas-Erkrankte zu entwickeln. Als sich 2019 das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) abzeichnete, suchte Emmert geeignete Mitstreiter, um seine Idee endlich zu realisieren. Mit der Psychologin Nora Mehl holte er sich die medizinisch-fachliche Kompetenz dazu, Tobias Lorenz brachte das technische Know-how mit. „Wir wollten unbedingt eine DiGA entwickeln“, so Emmert. „Wir standen deshalb von Beginn an in engem Kontakt mit dem BfArM, um regulatorische Fragen zu klären.“ Das funktionierte gut. Schwieriger war es für die Gründer hingegen, Entwickler zu finden, die neben der Technik die strengen gesetzlichen Auflagen umsetzen konnten.

 

 

 

 

ZWEI HÜRDEN: CORONA UND KAPITAL

Das Ergebnis ist die App zanadio, die Adipositas-Erkrankte mit einem 12-Monats-Programm bei der Gewichtsabnahme unterstützt und coacht. „Gerade bei dieser Erkrankung ist eine ständige Begleitung der Patienten wichtig, wie sie eine App auf dem Smartphone bieten kann – ergänzt durch die Betreuung durch den Hausarzt und unsere Experten, – darunter zertifizierte Ernährungsberater, die jederzeit über die Chatfunktion erreichbar sind.“ Das BfArM nahm zanadio als vierte von aktuell 15 Apps in das DiGA-Verzeichnis auf, und mittlerweile nutzen rund 2.000 Patienten die App. Ein Anfang – denn der Markt für das Produkt ist theoretisch groß: Fast ein Viertel der Deutschen gilt als krankhaft übergewichtig.

Die größte Herausforderung für das aidhere-Team ist die Ansprache und Gewinnung von Ärzten, die die App auch tatsächlich verschreiben. „Noch ist unsere Bekanntheit gering und die Skepsis seitens der Mediziner groß – zu oft bekommen sie technische Lösungen präsentiert, die letztlich verpuffen oder deren Nutzerfreundlichkeit sie nicht bewerten können.“ Hier will Emmert mit einem professionellen Marketing und Testzugängen ansetzen. Langfristiges Ziel des mittlerweile 50-köpfigen aidhere-Teams ist es, das Produkt für weitere Nutzergruppen zugänglich zu machen, beispielsweise für Menschen mit einem BMI unter 40 oder für Jugendliche.

Sich den strengen Auflagen für eine DiGA oder ein zertifiziertes Medizinprodukt zu stellen, ist für andere Start-ups erst der zweite Schritt. So auch für die Macher von KENTAGO: Die Gründer haben mit Tricuro GO einen Smartphone-Aufsatz entwickelt, mit dem betriebliche Gesundheitsmanager, Physiotherapeuten, Fitnesstrainer oder Osteopathen ganz einfach die Wirbelsäule vermessen und auf dem Handydisplay anzeigen können. „Technischer Anknüpfungspunkt sind die Bewegungssensoren, die in den meisten Smartphones verbaut sind“, sagt Sportwissenschaftler und Erfinder Henning Hahn. Mit Thomas Lütcke holte er sich einen Digitalexperten für die Unternehmensgründung und Projektkoordination dazu. Lütcke übernahm außerdem die unternehmerische Grundlagenarbeit wie Marktanalyse und Fördermittel.

Zwei große Hürden müssen die KENTAGO-Macher aktuell meistern: weiteres Kapital beschaffen und die Pandemie durchstehen. Ersteres gelingt mit Hilfe von Vorseriengeräten, die am 3-D-Drucker entstanden. „Die waren bei den Investorengesprächen entscheidend, um die Funktion überzeugend erklären zu können“, sagt Hahn. Erste Kunden sind mittlerweile gewonnen, und das Interesse am Produkt ist groß. Dennoch brauchen die Gründer noch Durchhaltevermögen: „Für uns sind die monatelangen Schließungen von Betrieben und Fitnessstudios während der Pandemie hart, weil das die großflächige Produkteinführung verhindert“, sagt Lütcke. Die KENTAGO-Macher bleiben trotzdem optimistisch. Hahn: „Ohne den festen Glauben ans eigene Produkt geht es nicht. Und dass die ersten zwei bis drei Jahre als Start-up besonders hart sind, war uns bewusst.“

 

 

 

 

VON DER KLINIK ZUM START-UP

Neben einer guten Idee sind ein finanzielles Polster und ein gutes Netzwerk für Gründer wichtige Erfolgsfaktoren. „Ein Unternehmen gründen – inklusive Finanzplan, Strategie und Marketing – ist nicht für jeden was“, sagt auch Krüsemann. Er ist in seiner Laufbahn bisher meist Heilberuflern begegnet, die wie er parallel zum oder direkt nach dem Studium den Gründerweg eingeschlagen haben – einen kompletten Ausstieg aus etablierter Praxis oder Offizin zum Start-up hat er noch nicht erlebt. Krüsemann: „Eine andere Option ist es, sein Fachwissen und seine Ideen als medizinischer Berater beizusteuern – ohne selbst direkt Gründer zu werden.“ Ein Weg, den Dr. Sassan Sangsari eingeschlagen hat. Der gebürtige Kölner hat in Kanada Medizin studiert und zunächst mehrere Jahre in der Herzchirurgie gearbeitet, bis er 2019 zum Start-up Siilo wechselte, wo er als Medical Director den deutschen Markt betreut.

Siilo wurde 2016 in den Niederlanden von einem Arzt gegründet und bietet einen datenschutzkonformen Messenger-Dienst für medizinische Teams an. Sangsari: „Siilo ermöglicht eine mit der Datenschutzverordnung konforme Übertragung von sensiblen Patientenbefunden. Außerdem vereinfacht es die organisatorische Planung auf Station.“ Beim Aufbau seiner medizinischen Netzwerke kommt Sangsari zugute, dass er nach wie vor „als Kliniker“ denkt und aus seiner Zeit als Krankenhausarzt weiß, wie wichtig eine schnelle, unkomplizierte und zugleich sichere Kommunikation ist – sei es, um Befunde abteilungs- oder sogar standortübergreifend zu besprechen oder zweite Meinungen von Fachkollegen an anderen Einrichtungen einzuholen.

Als er von Siilo erfuhr, war der Schritt in die Start-up-Welt für Sangsari naheliegend. „Ich halte eine Modernisierung der Kommunikation auf Station und in Kliniken für entscheidend und sehe meine Arbeit als einen wesentlichen Beitrag für die Digitalisierung des Gesundheitswesens“, erklärt Sangsari. Und wenn sich Siilo in Deutschland irgendwann so flächendeckend etabliert hat, wie es bereits in den Niederlanden und Belgien der Fall ist, denkt er vielleicht auch wieder über die Rückkehr in eine Klinik nach.

ZWEITJOB: GRÜNDERIN

Vollzeit-Ärztin und Start-up-Gründerin ist Shabnam Fahimi-Weber – und damit eher die Ausnahme. Die HNO-Ärztin leitet zwei Praxen, eine HNO-Fachklinik sowie eine Forschungsgesellschaft in Essen – ein administrativ komplexes Modell. Ihr ließ es keine Ruhe, dass gut ausgebildete Medizinische Fachangestellte viel Zeit mit Terminverwaltung und Ressourcenmanagement verbringen müssen. „Also habe ich mich auf die Suche nach einer technischen Lösung gemacht, die einfach bedienbar ist und trotzdem Termine und Ressourcen smart organisiert“, erinnert sich Fahimi-Weber. Da es die nicht gab, wurde sie selbst aktiv. Durch ihre Forschungstätigkeit bestand ein guter Draht zu Hochschulkollegen. Über sie startete Fahimi-Weber einen Aufruf, um IT-Experten zu finden, die mit ihr ein Konzept für eine Ergänzung für bestehende Praxissoftware entwickeln, die einfach zu integrieren ist: „Mir war wichtig, dass die Software ‚mitdenkt‘ und die Bedürfnisse von Praxisbetreibern, Patienten und Zuweisern erkennt und berücksichtigt.“ Die Lösung besteht aus einer Plattform, die künstliche Intelligenz (KI) nutzt und beispielsweise zwischen Notfällen, Neupatienten, Routinefällen, aber auch gesetzlich und privat Versicherten unterscheidet, um Ressourcen und Termine optimal zu verteilen. Nach zwei Jahren Entwicklungszeit und vielen Testläufen in den eigenen Praxen war 2018 die Software marktreif: dubidoc.

Während der Entwicklungsphase hatte Fahimi-Weber sich zeitweise aus dem Praxisalltag zurückgezogen, um sich voll auf dubidoc zu fokussieren – seit 2020 wird das Unternehmen von einem Geschäftsführer geleitet, und Fahimi-Weber kann sich wieder auf den Praxisbetrieb konzentrieren. Bei der Weiterentwicklung der Software bleibt sie aber wichtige Impulsgeberin. „Wenn ich mich in eine Materie eingearbeitet habe, lässt mir das keine Ruhe, und mein Kopf denkt automatisch weiter über Verbesserungen nach“, sagt die Medizinerin und dreifache Mutter. Die Resonanz auf dubidoc seitens der Ärzteschaft ist positiv, und nach herausfordernden Anfangsjahren steht das Unternehmen mit mehreren Hundert Nutzern mittlerweile gut da. Fahimi-Weber: „Das ist Beruhigung und Bestätigung zugleich – schließlich lag das finanzielle Risiko zu Beginn komplett bei mir.“ Trotzdem ist sie sich sicher: Bei einer neuen guten Idee würde sie wieder gründen.

Die Möglichkeiten für Mediziner in der Startup-Szene sind somit vielfältig – ob als Gründer oder medizinischer Berater. „Wen eine Idee nachhaltig umtreibt, der sollte sich genau fragen, welcher Weg am besten für ihn passt“, rät Krüsemann. Auch ein Netzwerk, den Erfahrungsaustausch mit anderen Startups und Unternehmern hält er für hilfreich. Dass Neuerungen wie erweiterte Regelungen für Telemedizin, DiGA oder die elektronische Patientenakte (EPA) etwas in Gang gesetzt und die Voraussetzungen für Start-ups grundsätzlich verbessert haben, sieht er auf jeden Fall. Eine Einschätzung, die Studien des Deutschen Startup Monitor 2020 bestätigen, die im Bereich von Neugründungen im Medizinsektor ein Plus von 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen. Dass nun aber am laufenden Band so genannte Einhörner, also immens wertvolle Start-ups, entstehen, erwartet Krüsemann nicht: „Es wird in Zukunft sicherlich spannende neue Anwendungen geben, die Therapie und Diagnose verbessern und auch zur Reduktion administrativer Prozesse beitragen.“ Wer jedoch mit dem Ziel gründet, im Gesundheitswesen schnell das ganz große Geld zu verdienen, wird eher enttäuscht werden. „Aber darüber bin ich aus ethischer Sicht auch ganz froh.“

 
 
Text: Roya Piontek
Bild: Hanna Lenz