Zwei Jahre nachdem das Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg 1889 eröffnet wird, pflanzt man auf dem Klinikgelände eine kleine Hainbuche. 2017 – 126 Jahre später – ist aus dem Setzling ein kräftiger Baum geworden. So hoch wie ein vierstöckiges Gebäude, die Krone misst 24 Meter im Durchmesser. Doch wo jetzt der grüne Riese seine Wurzeln geschlagen hat, soll bald die neue Kinderklinik stehen. Scheinbar ein Dilemma: Neubau oder Naturschutz? Das UKE entscheidet sich für beides – und baut um den Baum herum. Heute ist die Hainbuche das grüne Herzstück der Kinderklinik – und ein Symbol für den „grünen Blick“ des UKE, erklärt Frank Dzukowski, Leiter der Stabsstelle Nachhaltigkeit und Klimamanagement und der Arbeitsgruppe „Das grüne UKE“. Nachhaltigkeit soll in Hamburg-Eppendorf mitgedacht werden – nicht nur bei Neubauten, sondern in allen Bereichen des Klinikalltags.
Diesen Weg schlägt nicht nur das UKE ein. Deutschlandweit nehmen sich immer mehr Kliniken vor, grüner zu werden, wie Andrea Raida beobachtet. „Am Anfang ging es noch oft darum, wirtschaftsökonomische Maßnahmen aus MarketingGründen mit einem grünen Anstrich zu versehen“, erklärt die gelernte Betriebswirtin, die am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund zu grüner Krankenhauslogistik forscht. Inzwischen gäbe es aber ein ehrliches Interesse an mehr Nachhaltigkeit. Viele Kliniken sind sich heute bewusst, welche Verantwortung sie beim Klimawandel tragen. „Ein Krankenhaus verursacht eine Umweltbelastung wie eine komplette Kleinstadt“, so Raida. Als hochtechnisierte 24-Stunden-Betriebe mit einer energieintensiven Ausstattung wie Kernspintomografen, speziellen Lüftungsanlagen oder intensivmedizinischen Geräten sind Kliniken der größte CO2 -Verursacher im Dienstleistungssektor. Dazu kommt der große Verbrauch an Einwegmaterial und Lebensmitteln. Pro Patient fällt jährlich etwa eine Tonne Müll an.
Viele Kliniken haben außerdem inzwischen erkannt, dass Klimaschutz auch Gesundheitsschutz ist. Denn sie bekommen die Folgen des Klimawandels bereits heute zu spüren: In den Hitzesommern steigt die Anzahl der Notfallpatienten, Extremwetterereignisse wie Stürme oder Überschwemmungen fordern vermehrt Unfallopfer. „Gesundheit ist schon immer verbunden mit einer gesunden Lebensumwelt“, sagt Dzukowski. Zwei Mitarbeitende kümmern sich unter Leitung des gelernten Ingenieurs um die nachhaltigen Maßnahmen des UKE – der eine in Vollzeit, der andere in Teilzeit. Dzukowski ist froh über diese Unterstützung. Denn die Klinik verfolgt ambitionierte Ziele: mindestens 55 Prozent CO2 -Emissionen einsparen bis 2030, Klimaneutralität bis 2050. „Wenn wir das erreichen wollen, reicht es nicht, irgendwie anzufangen. Wir müssen das Thema strukturiert angehen“, betont Dzukowski.
Die größte Baustelle ist für ihn die Energieeffizienz. Seit 2014 unterhält das UKE ein eigenes Blockheizkraftwerk. Dadurch spart die Klinik knapp zehn Prozent CO2 -Emissionen. Dazu wurden auf den Dächern dreier Gebäude Photovoltaikanlagen installiert. Das Motto außerdem: Mehr Nutzung nach Bedarf. „Wir verwenden an vielen Stellen Bewegungsmelder, damit nur dann Licht brennt, wenn es wirklich nötig ist, und wir nutzen eine Software, um die Speiseversorgung individueller zu gestalten und so Müll zu vermeiden. Wir versuchen also durch digitale Lösungen, Energie zu sparen, wo es geht“, erklärt Dzukowski. Doch diese Methode, macht er deutlich, hat Grenzen: „Das Patientenwohl wird immer Vorrang gegenüber Nachhaltigkeitsbemühungen haben.“
Das betont auch Nachhaltigkeitsexpertin Raida. „Kliniken müssen einen Dauerbetrieb gewährleisten. Es können immer Notfälle passieren. Daher muss einfach vieles auf Standby laufen, um direkt einsatzbereit zu sein“, so die Forscherin. Und auch Ressourcensparen sei hier nur begrenzt möglich. So erfordern zum Beispiel Hygienevorschriften, dass OP-Besteck mehrfach verpackt ist. Ein Nachhaltigkeits-No-Go, aber ein Muss für Patientensicherheit. Außerdem könne man ein Krankenhaus ja nicht mal eben neu bauen, gibt Raida zu bedenken: „Es ist also vor allem wichtig, sich anzuschauen, wo sich im operativen Betrieb – in der Speiseversorgung, dem Einkauf, der Mobilität – nachhaltige Potenziale finden.“ Digitalisierung sei dabei ein wichtiges „Werkzeug im Nachhaltigkeitsbaukasten“. Denn obwohl mehr digitale Lösungen auch mehr Energieverbrauch bedeuten, würden sie vor allem Prozesse verschlanken. So können softwaregestützte Systeme zum Beispiel dafür sorgen, dass sich Materialbestellungen oder eben, wie im Fall des UKE, die Speiseversorgung der Patienten stärker am tatsächlichen Bedarf orientieren. Besonders relevant für Kliniken auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit seien aber die vermeintlich kleinen grünen Maßnahmen: auffüllbare Glasflaschen nutzen, weniger drucken oder eben Mehrwegbehälter in der Kantine verwenden. Alles Maßnahmen, die vor allem eines fordern: das Umdenken jedes einzelnen Mitarbeitenden.
Eine Einschätzung, die Tobias Emler teilt. Der gelernte Betriebswirt ist als so genannter Klimamanager der Universitätsmedizin Essen (UME) für das Nachhaltigkeitsmanagement des Klinikverbunds zuständig. Natürlich wolle man an der UME auch große infrastrukturelle Projekte vorantreiben, doch das meiste Potenzial sieht er darin, jeden Mitarbeiter zu kleinen Verhaltensänderungen anzuregen. „Einfache Dinge, wie nach Feierabend das Licht im Büro löschen, den Bildschirm ausschalten oder den Müll trennen – wenn da jeder nur ein bisschen was macht, haben wir am Ende trotzdem einen Rieseneffekt“, so Emler.
Auch wenn er mit seinen Ideen bei vielen Kolleginnen und Kollegen offene Türen einrenne, sei ihm trotzdem bewusst, dass er das große Umdenken beim Klinikpersonal nicht allein bewirken kann. Daher ist auch an der UME Nachhaltigkeitsmanagement Teamwork. 13 Mitarbeitende aus wichtigen Schnittstellenabteilungen engagieren sich neben ihrer eigentlichen Tätigkeit für die Kernarbeitsgruppe „Team Green“, dazu kommen 130 Nachhaltigkeitsbeauftragte in allen Unternehmensbereichen.
Wie wichtig Vernetzung beim Thema Nachhaltigkeit im Krankenhaussektor ist, hat man auch in der Politik erkannt. So fördert das Bundesumweltministerium ein entsprechendes Projekt des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Berlin, der Krankenhausgesellschaft NRW und des Universitätsklinikums Jena. Unter dem Namen KLIK-green wird von 250 Kliniken und Reha-Einrichtungen deutschlandweit jeweils eine verantwortliche Person zum Klimamanager oder zur Klimamanagerin qualifiziert. Diese treiben dann an ihren Häusern Nachhaltigkeitsmaßnahmen aktiv voran – im Austausch miteinander. Das Ziel: bis April 2022 gemeinsam 100.000 Tonnen CO2 -Äquivalente einsparen. „Um mögliche Handlungsfelder für mehr Nachhaltigkeit zu definieren, braucht es alle Perspektiven“, erklärt die Projektleiterin des BUND, Annegret Dickhoff, selbst Pflegefachkraft und Diplom-Ingenieurin für technischen Umweltschutz. So sieht ein Techniker vielleicht das Energiesparpotenzial bei der Umstellung auf LED-Beleuchtung, denkt aber nicht daran, dass auch das Recycling von Narkosegasen eine nachhaltige Maßnahme sein könnte. Daher sei der Erfolg beim Weg zum grünen Krankenhaus maßgeblich davon abhängig, ob es gelingt, sich interdisziplinär zu vernetzen und so an möglichst vielen Stellschrauben zu drehen, meint Dickhoff. Diese Vernetzung beginne im eigenen Haus, höre dort aber im besten Fall nicht auf: „Bei uns im KLIK-greenProjekt kommen Beschäftigte aus dem Techniksektor, der Ärzteschaft, der Pflege, dem Qualitätsmanagement und der Verwaltung deutschlandweit zusammen. Da kann jeder von der Expertise des anderen profitieren.“
Die größten Herausforderungen auf dem Weg zum grünen Klinikum bleiben gleichwohl Zeit und Geld. Klimaschutz ja, aber vielleicht besser erstmal woanders anfangen, hier fehlt es an Ressourcen. Reaktionen wie diese erntet Emler von der UME häufig, wenn er Kollegen seine Ideen präsentiert. Ähnliches bekommt auch UKEMann Dzukowski immer wieder zu hören: „Nachhaltigkeit steht nicht immer ganz oben auf der Prioritätenliste der Kollegen.“ Besonders in der Corona-Pandemie wird die Umsetzung einer Maßnahme schon mal zurückgestellt. Was die Kosten betrifft, so sei Krankenhausfinanzierung an sich schon ein schwieriges Thema, sagt Dzukowski: „Letztlich stehen die Mittel, die wir für Nachhaltigkeitsprojekte nutzen könnten, immer in Konkurrenz zu anderen Investitionen.“
Dass die Finanzplanung für Kliniken herausfordernd ist, kann auch Patrick Miljes, Bereichsleiter Firmenkunden der apoBank bestätigen: „Investitionsförderungen sind eigentlich Ländersache, jedoch fallen diese seit Jahren deutlich zu gering aus, weshalb die Kliniken mit unterschiedlichen Mitteln für die Finanzierung sorgen müssen.“ Er setzt dabei auf einen Mix aus verschiedenen Instrumenten: „Werden beispielsweise Investitionen für bauliche Veränderungen mit Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz verbunden, lassen sich in der Regel verschiedene Fördermittel in ein Finanzierungskonzept integrieren.“
Diesen Ansatz verfolgt auch Dr. Siegfried Borker, Klimamanager der Niels-Stensen-Kliniken, einem Klinikverbund von acht Krankenhäusern in der Region Osnabrück und dem Emsland: „Ich recherchiere immer erstmal, was es für Möglichkeiten gibt, sich bei der Umsetzung bestimmter nachhaltiger Vorhaben finanzieren zu lassen“, erklärt Borker. Unterstützung bei der Fördermittelakquise holt er sich beim Team des KLIK-Projekts, wo auch seine acht Häuser seit Februar 2020 Mitglied sind. Wenn er auf neue Fördermöglichkeiten stößt, pflegt er sie auf einem internen Portal ein, dem Herzstück des Klimaschutzes der Klinik. Alle 6.000 Mitarbeitende haben Zugriff und bekommen hier nicht nur eine Übersicht über Fördermöglichkeiten, sondern auch über alle laufenden und abgeschlossenen Nachhaltigkeitsmaßnahmen des Verbunds und können selbst Projekte initiierten. Zudem ist für alle transparent und detailliert dargestellt, wie viel Geld in ein Projekt geflossen ist und wie viel CO2 dadurch gespart wird. Für die Umsetzung von Projekten sind die einzelnen Häuser letztlich selbst verantwortlich, Borker gibt nur Impulse. Sie finden jedoch Resonanz: Rund 152 Tonnen CO2 haben die Niels-Stensen-Kliniken bereits eingespart, mit dem geplanten Umstieg auf Ökostrom kommen nochmal knapp 5.000 Tonnen dazu.
Trotzdem sieht Borker seine bisherige Arbeit nur als Anfang: „Das Klimaschutzengagement bei uns im Verbund ist noch ein kleines Pflänzchen. Wir haben es eingepflanzt und jetzt bildet es langsam ein gutes Wurzelwerk aus, das von allein immer weiterwächst.“ Borker glaubt fest daran, dass daraus einmal ein großer, kräftiger Baum wird. Ganz so wie die Hainbuche in der Kinderklinik in Eppendorf.