Digitale Pioniere

Stille Revolution

Vom papierlosen Krankenhaus bis zum KI-Labor: Abseits von Großprojekten arbeiten viele Ärzte und Apotheker an der Digitalisierung ihres Berufsalltags. Eine Deutschlandreise zu den Hidden Champions der Medizin

Sitzt ein Programmierer am Rechner und sagt: ‚Bin gleich fertig!‘“ Der Witz ist nicht nur unter Informatikern beliebt, seine Pointe längst Allgemeingut: Digitaler Fortschritt wird gern früh angekündigt, obwohl jeder weiß, dass er wohl noch lange braucht. 
Auch im Gesundheitswesen wird der digitale Durchbruch seit Jahren fast täglich beschworen. Skeptiker sehen sich indes nicht nur von schleppend laufenden Großprojekten wie der elektronischen Gesundheitskarte bestätigt. Liegt Googles smarte Kontaktlinse nicht ebenso auf Eis wie IBMs Diagnoserechner Watson? 
Mag sein. Trotzdem ist der digitale Wandel in vielen Praxen, Offizinen und Krankenhäusern längst Realität. In allen Ecken Deutschlands gehen Heilberufler voran und digitalisieren ihre Arbeit auf eigene Faust. 

Station 1: Teterow

Das papierlose Krankenhaus

„Das Halbdigitale ist ja das Schlimmste“, sagt Prof. Dr. Alexander Riad. „Man bekommt etwas auf Papier und muss es erst in die Tastatur hauen, um es auf einem anderen Bildschirm noch mal anschauen zu können.“ 
Als der heutige Ärztliche Direktor und Chefarzt der Klinik für Kardiologie und Pulmologie des DRK-Krankenhauses Teterow 2014 aus der Berliner Charité in die mecklenburgische Kleinstadt wechselte, war die dortige Klinik „nur zu 50 Prozent digital“. Ärzte konnten sich nur einen Bruchteil der Befunde am Rechner ansehen. Verordnungen wurden nicht eingescannt. Heute werden alle Daten bei der Einweisung digitalisiert und mit Stichwörtern versehen, die Ergebnisse von Blutentnahmen, Röntgen- oder EKG-Untersuchungen über WLAN direkt ins System eingespeist. Und bei der Entlassung fasst ein Algorithmus sämtliche Informationen zu einem digitalen Arztbrief zusammen.
„Seit Anfang des Jahres arbeiten wir als erstes Krankenhaus in Mecklenburg-Vorpommern komplett papierlos“, sagt Riad. Blutdruckwerte, Fieberkurven, sogar Operationen kann der Chefarzt vom heimischen Computer aus beobachten. „Der Weg hierher war lang und steinig – aber er hat Spaß gemacht.“ Jede Woche traf man sich anfangs zum „Digitale-Akte-Meeting“. Unzählige Detailfragen mussten geklärt werden. Und Dinge, die man nicht vorhergesehen hatte: „Bei der Papierakte hatte früher jeder etwas in der Hand, jetzt standen wir plötzlich mit 20 Leuten um einen Rechner. Das heißt: Wir mussten anfangs sehr viele Geräte anschaffen.“ Die Investitionen haben sich gelohnt, findet Riad. „Weil Daten einfach und schnell verfügbar sind, haben wir trotz Personalmangel mehr Zeit für die Patienten.“

 

Station 2: Berlin

Der App-otheker

Maximilian Wilke freut sich: Gerade erst hat der Berliner Apotheker für seine App „whats­In my meds“ den Deutschen Apothekenpreis erhalten. Das Programm hilft dabei, Medikamente zu finden, die auch bei Lebensmittelunverträglichkeiten oder Allergien geeignet sind. Patienten, die unter Laktoseintoleranz oder Penicillin-Allergie leiden, mussten bislang selbst aufwendig recherchieren, welche Mittel sie nehmen können. Dank Wilkes App können auch Veganer oder Menschen, die etwa aufgrund ihrer Religion keine oder nur ausgewählte Tierprodukte essen, mit wenigen Klicks checken, was in welchen Medikamenten steckt. 
Die Idee zur App kam dem angestellten Apotheker, als er bei Beratungsgesprächen immer öfter nach Inhaltsstoffen gefragt wurde. Bei der Recherche blieb ihm nur Google. „Das fand ich unbefriedigend“, sagt der 36-Jährige. „Also habe ich meine persönlichen Erfahrungen über eine Online-Umfrage mit mehreren Hundert Teilnehmern verifizieren lassen.“ Das Ergebnis: Das Interesse an mehr Transparenz ist groß, aber Lösungen fehlten. Also suchte sich Wilke einen Programmierer und entwickelte auf eigene Faust in wenigen Monaten „whatsIn my meds“. Als die App im Mai 2018 auf den Markt kam, merkte er schnell: Auch Apotheker und Ärzte können sich damit einen Beratungsvorsprung verschaffen. Deshalb gibt es für Heilberufler inzwischen eine Desktop-Version, die innerhalb von Sekunden die gewünschte Information übermittelt. 
„Mir ist wichtig, dass die App nicht in Konkurrenz zum Apotheker steht, sondern eine Hilfe im Kundengespräch ist“, sagt Wilke. Denn eine umfassende Beratung sei es doch, wodurch sich Apotheker langfristig von der Online-Konkurrenz abheben können. Seine App sieht er als Baustein, dem langfristig weitere folgen könnten: „In Sachen ‚Tele-Pharmazie‘, also einer fundierten Beratung übers Internet, ist noch Spielraum. Da bin ich gerade dran.“

Station 3: Gießen

Das Praxisleitsystem

Wenn Dr. Thomas Führer auf seiner digitalen Pinnwand eine Kaffeetasse unter seinem Gesicht sieht, weiß er: Er darf sich zurücklehnen. Das Symbol steht im praxisinternen Leitsystem für Pause. Zwei mal einen Meter groß ist der Flatscreen, auf dem alle Räume seiner Hautarztpraxis im hessischen Gießen als Rechtecke zu sehen sind. Darin: Fotos der Ärzte und zusätzliche Symbole, die eine Tätigkeit beschreiben und so den jeweiligen Arzt durch seine Sprechstunde leiten. So weiß jeder der sieben Dermatologen der Praxis, wo wer aktuell was zu tun hat. 
Basis für das visuelle Leitsystem ist die App „Organise-it“, die Führer eigens für seine Praxis hat entwickeln lassen.„Wir haben unsere Arbeitsweise schon vor 15 Jahren umgestellt, nachdem ich mich extern hatte beraten lassen“, sagt der Heilberufler. Damals schulte die Praxis medizinische Fachangestellte zu so genannten Praxisassistentinnen um, die die „Patientenreise“ von der Begrüßung bis zur Verabschiedung planen und begleiten. 2012 kam dann die App hinzu. Seither steuern die Assistentinnen die Wege der Ärzte und Patienten über die digitale Pinnwand, die auch in Sprechzimmern und Eingriffsräumen einsehbar ist. 
Direkt bei der Aufnahme bekommen Patienten zudem ein Tablet mit einer Software in die Hand, über die sie Formulare ausfüllen können. Diese werden direkt in der elektronischen Patientenakte abgespeichert. „Durch die Umstellung arbeiten wir heute viel effizienter“, sagt Führer. Messungen zeigten, dass Ärzte vor der Einführung des Systems lediglich 32 Prozent ihrer Zeit am Patienten arbeiteten. „Heute sind wir bei 65 Prozent.“ Seine Arbeitsweise legt der Dermatologe auch anderen niedergelassenen Kollegen ans Herz. Deshalb hat sein Team ein Schulungsprogramm entwickelt, mit dem bereits mehrere Praxen weitergebildet wurden. „Meine Hoffnung ist, damit vor allem junge Kollegen zu unterstützen, die sich niederlassen wollen“, sagt der 60-jährige Digitalisierungs-Vorreiter.

Station 4: Düsseldorf

Die Zahnpraxis der Zukunft

An den Tag, als er in seiner Praxis die Karteikarten abgeschafft hat, erinnert sich Dr. Andreas Janke noch gut. „Damals fand ich es sehr unangenehm, meine Mitarbeiter zu zwingen, sich künftig an Maus und Tastatur zu gewöhnen“, sagt der Zahnarzt aus Heiligenhaus bei Düsseldorf. „Heute ist es mir unangenehm, dass sie noch mit Maus und Tastatur arbeiten müssen.“ Und noch nicht mit den Touchpads und den vernetzten mobilen Geräten arbeiten können, die gerade in der Zahnpraxis der Zukunft (ZPdZ) installiert werden. Die Praxis, die in diesem Spätsommer im Düsseldorfer Stadtteil Lörick an den Start geht, ist ein Gemeinschaftsprojekt von apoBank und Zahnärztlicher Abrechnungsgenossenschaft eG (ZA eG). Janke ist als Vorstandsvorsitzender der ZA eG einer der beiden Geschäftsführer. „Wir wollen hier Digitalisierung erlebbar machen“, sagt sein Mitstreiter Daniel Zehnich, Leiter Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik bei der apoBank.
Die ZPdZ ist eine Art Modell-Zahnarztpraxis, die technisch auf dem neuesten Stand ist. Dafür mietete das Joint Venture neue Räumlichkeiten und gestaltete sie aufwendig um. „Herzstück ist eine Verwaltungssoftware, die mit allen digitalen Anwendungen kommunizieren kann“, erklärt Janke. Für die Kommunikation mit Patienten gibt es datensichere Messenger, mit dem Steuerberater trifft man sich in der Cloud. „Auch das Bestellwesen und die Kommunikation mit der Zahntechnik laufen komplett papierlos.“
Eine Berufsausübungsgemeinschaft von drei Zahnärztinnen wird künftig in der Musterpraxis praktizieren, erklärt Zehnich: „Die Zahnärzte werden bei allen administrativen Aufgaben unterstützt, um einerseits ihre persönlichen Lebensentwürfe zu organisieren und andererseits Freiraum für die Arbeit am Patienten zu schaffen.“ Mittelfristig will die ZPdZ GmbH auch weiteren Praxisinhabern oder Jung-Zahnärzten unter die Arme greifen, sei es durch die Vermietung einer eigenen schlüsselfertigen Zahnarztpraxis oder mit der Modernisierung von Räumen vor der Praxisabgabe. Was in Sachen Digitalisierung möglich ist, können sie sich ab Eröffnung in Düsseldorf anschauen.

Station 5: Heidelberg

Informatik für Mediziner

Wie es dem Patienten geht? Die intelligente Schuhsohle, die Lea Kraut im Rahmen ihrer Bachelorarbeit entwickelt hat, gibt auf diese Alltagsfrage eine anatomisch genaue Auskunft. Die 25-Jährige hat in ihrem Medizintechnik-Studium eine Platine mit acht Drucksensoren entwickelt, die als Einlage im Schuh getragen werden kann und den Bewegungsablauf aufzeichnet. Die Daten werden über Bluetooth an ein Smartphone gesendet. Angewendet werden könnte ihr Prototyp bei Gangbild­analysen, etwa bei der Erkennung von Morbus Parkinson.
Intelligente Lösungen programmieren, die Patienten und Ärzten die Arbeit erleichtern: Das ist auch das Ziel von Krauts Masterstudiengang Medizinische Informatik. „Wenn Mediziner und Informatiker zusammentreffen, prallen oft zwei Welten aufeinander“, sagt die Studentin. Da reden die einen über Diagnosen und Abrechnungsziffern, während die anderen von Kommunikationsstandards und -protokollen sprechen. Effektiv könne die Digitalisierung aber nur sein, wenn sich beide Seiten verstehen, glaubt Kraut: „Für uns Informatiker ist es wichtig zu wissen, wie der Alltag in der Klinik aussieht, welche regulatorischen Zwänge es gibt und welche Anwendungen wirklich gebraucht werden.“
In den Seminaren der Medizinischen Informatik der Uni Heidelberg berichten deshalb regelmäßig Heilberufler aus der Praxis. Außerdem bekommen die Studierenden Unterricht in medizinischen Grundlagenfächern. Was sinnvoll ist, findet Kraut, schließlich ist einer der großen Digitalisierungs-Trends die Vermessung des Körpers. „Wenn künftig immer mehr Gesundheitsdaten geteilt werden können, wird das die Medizin stark verbessern“, glaubt sie. Dazu brauche es möglichst bald ein national gültiges Konzept für eine elektronische Patientenakte. Und Menschen wie sie, die sich mit Informatik und Medizin auskennen.

Station 6: Regensburg

Die digitalisierte Praxis

Noch sind im OTC | Orthopädie Traumatologie Centrum in Regensburg nicht alle Kartons ausgepackt. Erst wenige Wochen zuvor ist das zehnköpfige Ärzteteam des OTC | Regensburg in neue Räume gezogen. „Wir haben jetzt genug Platz für ein Magnetresonanztomografie(MRT)- sowie ein digitales Volumentomografie- (DVT)-Gerät, moderne Behandlungsräume und sogar für einen Operationstrakt mit Aufwachraum“, sagt Dr. Heiko Durst, einer der geschäftsführenden Ärzte. Das Besondere an der Praxis: Alles hier ist digital vernetzt. 
Sämtliche Befunde werden direkt bei der Aufnahme des Patienten gescannt. Auch Ergebnisse vom Röntgen, von MRT- oder der DVT-Untersuchungen landen direkt in einer digitalen Akte. Das papierlose Verfahren erspart dem OTC-Team das Archivieren von Akten und CDs. „Außerdem vermeiden wir Fehler, die beim händischen Übertragen entstehen“, sagt Durst. Er nutzt wie die meisten seiner Kollegen beim Verfassen von Arztbriefen Spracherkennung. Auch das spart Zeit und ermöglicht es den Ärzten, den Patienten sofort einen Arztbrief mit Behandlungsempfehlungen zum Beispiel für den Physiotherapeuten mitzugeben. 
Patienten können über die Homepage einen Termin beim Spezialisten ihrer Wahl vereinbaren. Wenn sie ihre Fragen und Beschwerden vorab online eingeben, können sich die Ärzte zudem gezielt vorbereiten. Schöner Nebeneffekt: Die Quote der Patienten, die einen Termin vergessen, hält sich dank digitaler Erinnerungen via E-Mail oder Kurznachricht in Grenzen. 
Für das OTC-Team rechtfertigen die Vorteile die Kosten der vernetzten Software, die sich auf knapp 200.000 Euro belaufen. „Klar ist das erstmal eine happige Summe“, sagt Durst. „Aber je besser ein System aufgesetzt ist, desto geringer sind die Supportkosten.“ Dass Kollegen zögern, wenn es um Digitalisierung geht, kann er nicht nachvollziehen. „Fehlbehandlungen werden reduziert, unser Pflegepersonal muss weniger Sachbearbeitung machen und wir treten als zeitgemäße Praxis auf.“ 

Station 7: München

Das KI-Labor

Prof. Dr. Dr. Torsten Haferlach hat von seinem Labor in München aus Zugriff auf einen Datenschatz. In derselben sicheren Cloud, die auch die deutsche Polizei für sensible Daten nutzt, lagert Haferlachs Münchner Leukämielabor GmbH (MLL) zurzeit 2,3 Petabyte an Genomdaten. Sie stammen von Patienten, die an unterschiedlichen Formen der Leukämie erkrankt sind. Zwölf Programmierer und Bioinformatiker lässt der Arzt täglich mit den Erbinformationen arbeiten. Das Ziel: bislang unbekannte Muster entdecken, die neue Therapiewege eröffnen könnten. 
Haferlach ist einer von drei Geschäftsführern des MLL. Mehr als 20 Jahre forschte der Hämatologe an verschiedenen Universitätskliniken, bis er 2005 MLL als Referenzlabor gründete, das für Praxen und Kliniken in ganz Deutschland Proben von Leukämiepatienten analysiert. „Wir bekommen täglich 300 Einsendungen“, sagt Haferlach. Aus den Ergebnissen gewinnen seine Mitarbeiter Anhaltspunkte für eine geeignete Therapie, die sie an die behandelnden Ärzten zurückspielen. Und das Labor selbst bekommt einen stetig wachsenden Datenschatz. 
Ohne den Einsatz von KI könne man den aber nicht heben, sagt Haferlach. Seine Firma startete deshalb in Eigenregie das 5.000-Genom-Projekt: Aus dem riesigen Probenpool fischte das Labor diejenigen von 5.000 Patienten heraus, deren Tumorgenom dann pseudonymisiert komplett im MLL sequenziert wurde. „Die Frage ist nun: Gibt es Strukturen, die bei mehr als einem Patienten zu finden sind?“, erklärt Haferlach. 
Die Kosten dieser Forschung trägt das MLL selbst. Eigentlich würde man solche Anstrengungen von der universitären Forschung erwarten, aber dafür stimmten bisher die Rahmenbedingungen nicht, glaubt der Arzt, für den die Studie ein Investment in die Zukunft ist: „Die KI-Diagnostik könnte die aufwendige Routinediagnostik bei Leukämie schon bald ergänzen und später ablösen.“ Für Mi­kroskopie-Experten wie ihn wäre das wohl der erste Schritt zur Selbstabschaffung. Und gleichzeitig die Tür zu einer neuen, spannenden Aufgabe.