Von Marco Wehr
Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann sitzt konzentriert und leicht nach vorn gebeugt auf einem ergonomischen Drehstuhl. In voller OP-Montur entfernt der Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Kiel gerade bei einem Patienten ein Prostatakarzinom – ohne ihn auch nur zu berühren. Denn Jünemann führt das Skalpell nicht selbst. Das erledigt Kollege Da Vinci, ferngesteuert nach dem „Master-Slave-Prinzip“: Der über zwei Millionen Euro teure „Sklave“ schneidet in gut fünf Meter Entfernung vorsichtig nach den Vorgaben des Professors durch den Unterleib des Patienten. Seine Tentakelarme führen eine winzige Schere und eine Mini-Greifzange zwischen Prostata und Harnblase hindurch, ohne dabei die empfindlichen Nervenbahnen zu schädigen.
Der Urologe blickt derweil an seiner Konsole in eine dreidimensionale Welt. „Es ist wie bei einem Flugsimulator oder in Jules Vernes ‚Reise zum Mittelpunkt der Erde‘: Ich tauche über meinen Monitor ins Innere des Körpers ein und kann wie ein kleines Männchen darin spazieren gehen“, sagt Jünemann. Dieses Mehr an visuellen Informationen erweitere seine Spielräume als Operateur erheblich. Was Da Vinci dem Menschen voraushabe? „Er überträgt meine Bewegungen an der Steuerung eins zu eins auf die Instrumente, und das zitterfrei.“ Ein weiterer Fortschritt: Der Operateur muss dank Roboterhilfe nicht mehr stundenlang krumm gebeugt über dem Patienten stehen. Dank der minimalinvasiven Methode wird der Patient zudem bereits am Tag nach der Operation aufstehen können. Im Schnitt verkürzt sich der stationäre Aufenthalt eines Patienten durch den Robotereinsatz in Kiel um zwei bis drei Tage.
Das Beispiel aus Deutschlands Norden ist nur eines von vielen. Die Robotermedizin verändert gerade republikweit die Operationssäle. „In höchstens zehn Jahren werden in Deutschland die allermeisten chirurgischen Eingriffe von Robotern ausgeführt“, glaubt Jünemann. „Die traditionelle offene Chirurgie wird auf lange Sicht verschwinden.“
Eine Einschätzung, die Prof. Dr. Bernd Wullich, Direktor der Urologischen und Kinderurologischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen, für vorschnell hält: „Bis auf einen kürzeren Krankenhausaufenthalt und einen geringeren Blutverlust gegenüber den offenen Operationstechniken sind die reinen Ergebnisse bislang nicht so viel besser“, so Wullich. Tatsächlich gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die einen klaren Vorteil von Da Vinci belegen.
In der bislang einzigen kontrollierten Vergleichsstudie untersuchten Mediziner der Universität Queensland im australischen Brisbane den häufigsten Robotereingriff: die vollständige Entfernung der Prostata. Das Ergebnis der 2016 im Fachjournal „Lancet“ veröffentlichten Studie: Drei Monate nach dem Eingriff kam es in beiden Patientengruppen fast gleich häufig zu Inkontinenz und Erektionsstörungen. Trotzdem sieht auch Wullich Vorteile durch den Robotereinsatz. „Wir benötigen weniger Blutkonserven, wir sparen Schmerzmittel und brauchen weniger Wund- und Nachbehandlungen.“ Eine willkommene Nebenwirkung ist die Anziehungskraft, die von Da Vinci auf Patienten ausgeht. „Die meisten Patienten suchen uns auf, gerade weil wir es anbieten“, sagt Wullich. Auch Bewerber auf offene Arztstellen fragten gezielt nach, ob die Urologie bereits mit Da Vinci arbeite. „Für das Image einer Klinik ist das längst ein Faktor.“ Die Kehrseite der Medaille sind allerdings die hohen Kosten: Der Preis für einen Eingriff mit dem künstlichen Assistenten übertrifft den einer herkömmlichen Operation um mehr als 1.000 Euro. Diese Summe übersteigt die von den Krankenkassen bezahlte Fallpauschale bei weitem.
Die hohen Kosten sind vor allem auf die marktbeherrschende Stellung des Herstellers von Da Vinci zurückzuführen. Das kalifornische Medizintechnikunternehmen Intuitive Surgical brachte sein System bereits Ende der 90er Jahre auf den Markt. Inzwischen stehen weltweit über 4.200 Geräte in den OP-Sälen, davon 88 in Deutschland (Stand Ende 2016). Und das, obwohl der Stückpreis im Schnitt bei rund zwei Millionen Euro liegt. Rentabel arbeiten mit dem kostspieligen System können vor allem Kliniken mit einer gesunden Mischkalkulation – und letztlich all diejenigen, die die prestigeträchtigen Maschinen quersubventionieren. Dazu gehören meistens die großen Universitätskliniken, die Zuschüsse vom Bund und von den Ländern erhalten.
Die Vormacht von Intuitive Surgical basiert vor allem auf der rigiden Patentpolitik des Unternehmens: Es verfügt über weit mehr als 600 US-Patente – bisher eine unüberwindbare Barriere für Wettbewerber. Doch einige Patentrechte sind Ende 2016 ausgelaufen. Seitdem ist der Markt in Bewegung geraten. Sowohl Start-ups als auch Medizinkonzerne arbeiten derzeit unter Hochdruck an Alternativen – eine davon trägt das Siegel „Made in Germany“.
An der Leipziger Uniklinik ist Prof. Dr. Jens-Uwe Stolzenburg, Chefarzt der Urologie, die treibende Kraft, was die Entwicklung einer Konkurrenz zum Platzhirsch angeht. „Da Vinci ist mit seinen vielen Funktionen unbestritten ein sensationelles System, aber für die meisten Kliniken schlicht zu teuer. Mein Ziel ist es, weltweit viel mehr Menschen den Zugang zu den Vorteilen der roboterassistierten Chirurgie zu ermöglichen.“ Um die elektronischen Helfer flächendeckend zu verbreiten, hat Stolzenburg gemeinsam mit dem Jenaer Unternehmen avatera eine preisgünstigere Alternative entwickelt, die noch 2018 auf den Markt kommen wird. Das Modell setzt sich aus Standard-Komponenten zusammen, was einen erheblichen Kostenvorteil bedeuten soll.
Jetzt schon wesentlich günstiger als Da Vinci arbeitet ein Cola-Dosen-förmiges Gebilde aus Israel, das mit seinen sechs Beinchen in der Neurochirurgie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz über die Rücken der Patienten krabbelt. „Renaissance“ – so sein Name – gehört zu den vielen computergesteuerten „Facharbeitern“ in der Medizin, die nur in ganz eng abgesteckten Teilgebieten zum Einsatz kommen. „Das System zeigt genau an, wo und in welchem Winkel wir den Bohrer ansetzen müssen, um eine Schraube genau so zu implantieren wie zuvor am Computer geplant“, erklärt Prof. Dr. Sven Kantelhardt, leitender Oberarzt an der Mainzer Uniklinik.
Tatsächlich zeigt der Miniroboter, ähnlich wie eine Marssonde auf unbekanntem Terrain, über dem Körper exakt die richtige Stelle für den Hautschnitt an. Das spart Zeit und Röntgenaufnahmen. Rund hundert Gramm „Renaissance“ kosteten die Rheinhessen vor sechs Jahren etwa 600.000 Euro. Auch die Folgekosten sind geringer als beim großen Bruder Da Vinci: „Wir verbrauchen bei jedem Eingriff Einwegmaterialien im Wert von rund
150 Euro – das ist relativ überschaubar“, sagt der Neurochirurg. Hinzu komme: „Das Operieren wird insgesamt sicherer.“ Ein Aspekt, der letztlich auch von Hause aus eher konservativ eingestellte Chirurgen überzeuge.
Ob die neuen, praktischen Helfer den Menschen bald völlig aus dem OP-Saal verdrängen? Diese oft geäußerte Angst weist Kantelhardt zurück. „Die Roboter sind unser verlängerter Arm, der uns immer mehr hilft. Dass sie eines Tages ganz selbständig arbeiten, sehe ich nicht.“
Befürchtungen, dass angehende Chirurgen der Generation Y, für die der Umgang mit der Digitalisierung Alltag ist, die Grundlagen vergessen könnten, zerstreut Kantelhardt ebenfalls. „Klar lernen die Jungmediziner bei uns erst einmal, den Roboter zu bedienen, aber wir zeigen ihnen natürlich auch, wie es ohne geht. Schließlich müssen wir bei einem Systemausfall sofort umschalten und dem Patienten eine hochwertige manuelle Behandlung garantieren können. Ohne das Grundhandwerk zu beherrschen, geht es auch zukünftig nicht.“