Vor 40 Jahren floh seine Familie aus Pakistan nach Hannover. Nun nutzte Gynäkologe Wjahat Waraich seinen Jahresurlaub, um ukrainischen Geflüchteten zu helfen.
Von Maike Gröneweg
März 2022, es ist bitterkalt. Der bewaffnete Einmarsch Russlands in die Ukraine ist erst wenige Tage her, doch im polnischen Medyka, direkt an der ukrainischen Grenze, sammeln sich schon jetzt Tausende ukrainische Kriegsgeflüchtete. Sie sind erschöpft, traumatisiert und durchgefroren. Und sie brauchen Hilfe. Einer, von dem sie kommt, ist Dr. Wjahat Waraich.
Eigentlich arbeitet Waraich als Gynäkologe in Hannover. Für das Medizinstudium entschied er sich, weil er Menschen helfen wollte – etwas zurückgeben, was ihm in seinen Augen selbst gegeben wurde. Denn in den 1980er Jahren flohen seine Eltern vor religiöser Verfolgung aus Pakistan. „Meine Eltern kamen ohne Besitz, ohne Deutschkenntnisse nach Hannover. Aber ich habe durch Bildung den sozialen Aufstieg geschafft: Ich bin der erste Akademiker in der Familie. Dafür bin ich Deutschland dankbar“, erzählt Waraich. Doch mit dem Beruf des Arztes hört das Helfen für den 35-Jährigen nicht auf. Schon während des Studiums hörte Waraich von der Hilfsorganisation Humanity First, bot seine Hilfe an und reiste mehrfach mit nach Benin.
Auch jetzt, als angestellter Arzt, reserviert er zwei Wochen seines Jahresurlaubs für ehrenamtliche Einsätze in dem westafrikanischen Land. „Wir haben dort ein Krankenhaus aufgebaut und operieren nun kostenlos Menschen“, sagt Waraich. Seine Erfahrungen in Benin waren auch der Auslöser, sich auf Frauenheilkunde zu spezialisieren: „Ich habe gesehen, wie katastrophal es dort um die Frauengesundheit bestellt ist und wie viele Mütter und Neugeborene sterben, obwohl es gute Behandlungsmöglichkeiten gäbe.“
Die Entscheidung, ukrainischen Geflüchteten zu helfen, fiel spontan. Kurz nach dem Ausbruch des Angriffskriegs in der Ukraine warnte die Weltgesundheitsorganisation vor großen Fluchtbewegungen und alarmierte Hilfsorganisationen. Innerhalb einer Woche, nachdem Waraich zugesagt hatte, fand er sich im Grenzgebiet wieder. Zehn Tage lang gab er Medikamente an geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer aus, versorgte Wunden, wärmte die Menschen auf – und versuchte, Sicherheit auszustrahlen. „Die Menschen kamen zu jeder Uhrzeit. Es waren vor allem Mütter, Kinder und Ältere. Sie hatten alles zurückgelassen, waren tagelang unterwegs und standen stundenlang in Schlangen an der Grenze – bei Temperaturen von teilweise -15 Grad,“, schildert Waraich.
Um die Vielzahl an Menschen professionell versorgen zu können, baute Waraich mit anderen Freiwilligen eine Notfallambulanz in Medyka auf. Dazu kam er im April und Mai noch zweimal für jeweils zehn Tage zurück. Sorgen um seine Sicherheit hat er sich nicht gemacht – obwohl im 100 Kilometer entfernten Lwiw oder im benachbarten Militärstützpunkt mehrfach Raketen einschlugen. „Das war bedrückend“, sagt Waraich. „Auch die Extremsituation, in der sich die Menschen befanden, kannte ich von anderen Einsätzen nicht. Aber die Dankbarkeit der Menschen vor Ort und die Solidarität derer, die gespendet oder anders geholfen haben, gaben mir Kraft.“
Etwas zurückgeben – das möchte Waraich nicht nur Menschen in anderen Ländern, sondern auch vor Ort. Seit November 2021 ist er Bezirksbürgermeister in Hannover- Bothfeld-Vahrenheide, ebenfalls ehrenamtlich. „Der Bezirk ist sehr spannend, weil er den reichsten Stadtteil Hannovers umfasst, aber auch Vahrenheide, wo ich aufgewachsen bin und wo Arbeitslosigkeit, Zuwanderung und Armut sehr präsent sind“, sagt Waraich. Das Amt erfülle ihn sehr, trotz des zweiten Vollzeitjobs, den es für ihn bedeute: „Politik ist Medizin im Großen: Ich höre mir die Anliegen der Menschen an und versuche zu helfen. Das motiviert mich – sonst könnte ich das Pensum auch gar nicht schaffen.“
MEDICAL VOLUNTEERS INTERNATIONAL E.V.
Gemeinsam mit dem Verein Medical Volunteers International (MVI) unterstützt auch die apoBank-Stiftung medizinische Hilfsprojekte. MVI entsendet medizinisches Personal nicht nur in die Ukraine, sondern hilft auch Geflüchteten in verschiedenen Auffang-Camps in Griechenland.
Weitere Informationen: medical-volunteers.org