Nach der Flut

Mitte Juli überschwemmte eine Flutwelle das Ahrtal. Tausende Menschen verloren ihr Zuhause – und über 100 Praxen und 75 Apotheken gingen in den Fluten unter.

Von Roya Piontek

Wie ein einzelner weißer Zahn steht der Behandlungsstuhl in der Praxis von Dr. Matthias Willamowski in der Weststraße in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Ansonsten ist von der Einrichtung nichts übriggeblieben. Der Putz ist von den Wänden geschlagen, nur die nackten Steinmauern sind zu sehen. Bis unter die Decke der Praxisräume im Erdgeschoss stand das Wasser in der verhängnisvollen Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Als es immer weiter stieg, fuhr Willamowski abends schnell in die Praxis, um den Server mit den Patientendaten aus dem Keller ins Trockene zu bringen. Heute ist ihm klar, dass er dabei sein Leben riskierte, damals erkannte er das nicht: „Die Hochwasserprognosen waren ja zu Beginn nicht so dramatisch.“ Kaum hatte er den Keller betreten, kam das Wasser schwallartig durch die Fenster. In letzter Minute erreichte Willamowski die Praxisräume und konnte gerade noch die Türen öffnen, gegen die von außen die Wassermassen drückten. Er gelangte ins Freie und wurde von Nachbarn auf deren Balkon gezogen. „Das ging unglaublich schnell und die Wucht des Wassers war so übermächtig.“ Willamowski ist noch immer fassungslos. Vom Balkon aus musste er zudem hilflos zusehen, wie ein Nachbar beim Versuch, sein Auto umzuparken, in den Fluten ertrank. Noch heute verfolgen Willamowski die Bilder und die Erinnerungen an die schreckliche Nacht. „Der Lärm des tosenden Wassers, die Hilflosigkeit – und weil ich im Wasser mein Handy verloren hatte, konnte ich meine Frau nicht erreichen. Ich war mir sicher: Sie und mein Sohn überleben die Flutnacht in unserem Haus direkt am Wasser nicht.“

Verarbeiten und wieder aufbauen

Zum Glück stellte sich am nächsten Morgen heraus, dass die beiden die Nacht unbeschadet überstanden hatten. Doch auch sie haben Dramatisches gesehen. Sobald sich das Leben wieder etwas geordnet hat, will die Familie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, um die Geschehnisse der Flutnacht besser verarbeiten zu können. Doch zunächst ist vieles noch ein Provisorium: „Wir wohnen aktuell in einer Notunterkunft, bis unser Zuhause wieder bewohnbar ist.“ Und auch in der Praxis, in die Willamowski 2019 miteingestiegen war, ist mehr als genug zu tun. Er und sein Praxis-Partner Dr. Thomas Hoffmann können übergangsweise Räume bei zwei befreundeten Zahnärzten nutzen, um zumindest einen Grundbetrieb der Praxis aufrechtzuerhalten: „Aber unsere elf Mitarbeiterinnen mussten wir trotzdem in Kurzarbeit schicken, weil wir nicht in vollem Umfang praktizieren können.“ Voraussichtlich im Februar können die Ahrtal-Zahnärzte neue Praxisräume beziehen – höhergelegene als die alten. Was mit den überfluteten Räumen geschieht, ist vorerst unklar. Denn zunächst müssen noch Fragen mit der Versicherung geklärt werden, und auch die Soforthilfen vom Landkreis und vom Land Rheinland-Pfalz für Unternehmer sind noch nicht geflossen. „Zum Glück haben wir solide gewirtschaftet und Rücklagen gebildet – ansonsten stünde die Zukunft der Praxis auf der Kippe“, so der Zahnmediziner, der sich in dieser Situation sehr über die komplizierte Bürokratie ärgert. Eine erste Finanzhilfe kam von der Stiftung Hilfswerk Deutscher Zahnärzte. Willamowski: „Diese Solidarität tut gut. Schließlich wollen wir schnellstmöglich unsere Patienten wieder voll versorgen können.“

Vom Idyll zum Albtraum

Auch 15 Kilometer flussaufwärts in Altenahr richtete das Hochwasser massive Schäden an und kostete Menschenleben. Ein Kollege von Apothekerin Inge Göttling verlor seine Großmutter, weil diese nicht mehr rechtzeitig ins Dachgeschoss evakuiert werden konnte. Die Dame wohnte nur wenige Meter von Göttlings Burg Apotheke entfernt, die ebenfalls komplett zerstört wurde. „Zehn Jahre lang hielt ich den Standort meiner Apotheke für den bestmöglichen“, erzählt Göttling. In den Sommermonaten genoss sie mit ihrem Team die Mittagspausen im Liegestuhl an der Ahr – bis zum 15. Juli. „Einen nassen Keller hatten wir bei früheren Hochwassern durchaus mal – aber was jetzt passiert ist, erscheint immer noch ein bisschen surreal.“ Bis unter die Decke standen Schlamm und Wasser in Göttlings Offizin, kein Möbelstück war noch brauchbar, sämtliche Medikamente mussten entsorgt werden. „Ohne die freiwillig Helfenden, die ein Bekannter vermittelt hatte, wäre das nicht möglich gewesen“, erinnert sie sich und zeigt auf dem Smartphone Fotos aus den Tagen unmittelbar nach der Flut: Schlammbedeckt durchkämmen sie und ihre PTAs darauf die Überbleibsel aus der Apotheke. Göttling: „Ein Lichtblick in all dem Durcheinander war, dass immerhin unser Datenserver gerettet werden konnte.“ Um die Bewohnerinnen und Bewohner im Ort schnellstmöglich wieder mit Medikamenten versorgen zu können, half die Gemeinde mit Räumen im Pfarrhaus aus. Gemeinsam mit Ärztinnen der Bundeswehr, die die Notversorgung leisteten, bot Göttling hier eine provisorische Medikamentenausgabe an: „Viele im Ort hatten ja alles verloren – auch die Medikamente gegen ihre chronischen Erkrankungen.“ Mittlerweile konnte die Burg Apotheke in einen winterfesten Container in Kalenborn ziehen. Der Ortsteil liegt ein ganzes Stück oberhalb der Ahr und ist zwar beengt, aber für die Anwohnerinnen und Anwohner aus den umliegenden Dörfern gut zu erreichen – denn in einem Umkreis von 15 Kilometern ist Inge Göttlings Apotheke die einzige, die wieder in Betrieb ist. Und da viele in der Region neben ihrem Zuhause auch ihr Auto verloren haben, liefert das Team der Burg Apotheke viel aus. Göttling: „Auch unsere Autos sind davongeschwemmt worden, aber übers Internet haben wir im Ruhrgebiet einen kleinen gebrauchten Geländewagen günstig kaufen können. Mit dem kommen wir auch in Ortschaften, die immer noch keine festen Straßen haben.“

Übergangslösungen fernab vom Wasser

Wie lange die Container-Lösung bleibt, weiß Göttling noch nicht. Dafür ist die Zukunft des Ortskerns in Altenahr noch zu unklar. Sie ist vorerst froh, dass sie weitermachen und ihr gesamtes Team weiterhin anstellen kann. Keine Selbstverständlichkeit, denn wegen der flussnahen Lage war die alte Apotheke nicht elementarversichert. Welche Hilfen wann fließen, ist noch offen. „Zum Glück wurde der Container durch Spendengelder finanziert und Teile des Interieurs wie der Apothekerschrank wurden gespendet. Zudem dürfen wir die Rezeptur eines befreundeten Apothekers nutzen, um dort Salben und Ähnliches herzustellen.“ Viel Glück im Unglück also und trotz der vergangenen Monate strahlt Göttling positive Energie und Tatendrang aus. „Aber“, gibt sie zu, „ich bin auch schon um drei Uhr nachts wach geworden und habe gedacht: Nimmt das denn gar kein Ende?“ Doch ihr Team und die Dankbarkeit der Patientinnen und Patienten wischen solche Gedanken wieder fort: „Wir werden gebraucht und ich liebe meinen Job und den Kontakt zu Menschen nach wie vor!“