60 Kilometer in nur 15 Minuten – wenn es um schnelle Hilfe bei medizinischen Notfällen geht, sind Rettungshubschrauber unerlässlich. Immer mit an Bord: eine Notärztin oder ein Notarzt mit der Kernkompetenz, auch bei Turbulenzen ruhig zu bleiben.
Von Roya Piontek
Eine gute Grundlage muss sein: Es ist 6 Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel, drinnen sitzt das Team des Rettungshubschraubers (RTH) Christoph 64 beim gemeinsamen Frühstück. „10 Knoten Windgeschwindigkeit, gute Sicht und kein Regen. Sonnenuntergang ist um 18.03 Uhr“, teilt Björn Langner seiner Crew mit. Langner ist Pilot des Hubschraubers am Stützpunkt Angermünde nahe Berlin. Mit ihm am Tisch sitzen Notärztin Katja Loske, Notfallsanitäter Sebastian Liebig sowie Luftraumbeobachter Fedor Strickert, der am Boden für die Sicherheit bei Start und Landung sorgt. Die Stimmung ist trotz der frühen Stunde gut – wie die Wetterbedingungen. Von Sonnenaufgang bis -untergang wird der Rettungshubschrauber der DRF Luftrettung in der Uckermark Einsätze fliegen und Notdienst leisten. Da nicht absehbar ist, wann und wie oft das Team an diesem Tag ausrücken muss, ist ihnen ein gutes Frühstück wichtig.
Außerdem dient das Beisammensitzen gleichzeitig als Teambesprechung. Wetter, notwendige Materialbestellung und sonstige To-dos – all das wird hier in Ruhe besprochen. Der Hubschrauber steht währenddessen gewartet und gepackt auf dem Startfeld. Als um kurz nach 9 Uhr das erste Mal der Alarm geht, startet die Crew in Richtung Gransee. Keine 20 Minuten braucht der Helikopter für die knapp 80 Kilometer. Es geht über Seen und Wälder und einen alten russischen Militärstützpunkt. Am Ziel erwartet die Besatzung von Christoph 64 eine ältere Dame mit Atembeschwerden. Es gibt Entwarnung: Die Besatzung des ebenfalls gerufenen Rettungswagens (RTW) hat sie zwischenzeitlich schon gut versorgt. Katja Loske schaut sich die Patientin trotzdem noch einmal in Ruhe an. Die Diagnose: vermutlich eine schwere Bronchitis. Die Patientin kann mit dem RTW ins nächste Krankenhaus gebracht werden, Loske und ihre Kollegen fliegen hingegen zurück nach Angermünde. „Anders als in manchen Fernsehserien sind unsere Einsätze nicht immer dramatisch. Manchmal entpuppt sich ein Notruf vor Ort als Routinefall“, sagt die Fachärztin für Anästhesie. Seit vielen Jahren ist sie neben ihrer Arbeit am Werner Forßmann Klinikum Eberswalde sowohl im bodengebundenen als auch im luftgebundenen Rettungsdienst im Einsatz.
Zurück am Stützpunkt bleibt nur wenig Pause bis zum nächsten Alarm der Leitstelle: Sturz vom Dach. Also wieder Jacken an, Helme auf und die Maschine starten. Dabei hat jedes Crew-Mitglied seine feste Aufgabe. Während Strickert die Feuerlöschausrüstung am Boden bereithält, wirft Langner die Maschine an. Liebig hat eine Doppelrolle: Am Boden ist er Notfallsanitäter, in der Luft ist er als Helicopter Emergency Medical Services Technical Crew Member (HEMS TC) eine Art Co-Pilot. Loske checkt vor dem Einstieg von außen, ob die Rotoren fehlerfrei laufen. Dann springt auch sie an Bord, schließt die Tür und schnallt sich an. Langner fragt: „Cabin ready?“ Loske antwortet: „Ready!“ Nur wenige Minuten sind seit der Alarmmeldung vergangen, bis sich der Hubschrauber in die Luft erhebt. Beim Landen halten alle die Augen offen. Ist genug Platz? Steht ein Verkehrsschild oder Baum im Weg? Eine freie Fläche von 20 mal 20 Metern reichen Langner, um die Maschine zu landen. „Oft gehen wir auf einem Acker oder einer freien Wiese runter, manchmal ist es auch Nachbars Garten“, sagt Langner.
Da kann es schon mal passieren, dass ein Gartenhaus vom Wind der Rotoren umgeweht wird. Um den vom Dach gestürzten Patienten zu versorgen, ist der Landeplatz diesmal eine Pferdekoppel. Kaum am Boden geht es für Loske und Liebig im Laufschritt zum Gestürzten. Er ist stabil, aber die Verletzungen sind so schwerwiegend, dass die Crew ihn in die Klinik fliegen möchte. Doch der Mann sträubt sich: Er hat Platzangst und möchte nicht in den engen Helikopter steigen. Gutes Zureden hilft nicht, also erfolgt der Transport mit dem RTW. Liebig: „Da kann man nichts machen. Und einen sonst wachen Patienten nur für den Transport zu betäuben, erschwert später die neurologische Beurteilung im Krankenhaus.“ Schlag auf Schlag geht es an diesem Sonntag: Erst gegen 14 Uhr ist Zeit zum Verschnaufen und für ein kurzes Mittagessen. Der 2015 erbaute Stützpunkt der DRF Luftrettung in Angermünde verfügt im Erdgeschoss über eine große Küche und einen Aufenthaltsraum. Im Obergeschoss gibt es mehrere Schlafzimmer – schließlich sind Pilot und HEMS TC immer einige Tage am Stück im Dienst. An langen Sommertagen umfasst ein Einsatztag bis zu 15 Stunden. „Wir Notärztinnen kommen alle aus der Region und wechseln uns täglich ab“, erklärt Loske. Insgesamt besteht das Team in Angermünde aus 16 Medizinerinnen und Medizinern, drei Piloten, drei HEMS TC sowie zwei Luftraumbeobachtern.
Geflogen wird jeden Tag, vorausgesetzt, das Wetter stimmt. „Bei Gewitter, Hagel oder dichtem Nebel wäre es für uns zu gefährlich“, sagt Langner und deutet auf die Windräder in einiger Entfernung. „Wenn die im Nebel verschwinden, bleiben wir am Boden.“ Sicherheit geht bei der DRF vor – über die abenteuerlichen Manöver wie in TV-Serien lächelt die Crew nur milde. Loske: „Unseren Patienten wäre nicht geholfen, wenn wir sie und uns bei riskanten Manövern gefährden.“ Im vergangenen Jahr kam Christoph 64 auf 1.909 Einsätze. Und die Tendenz geht seit Jahren nach oben: Aufgrund der Infrastruktur in Brandenburg kann ein Rettungstransport in eine Klinik mit freien Betten schnell mal eine Stunde dauern – der Helikopter ist da deutlich schneller, was vor allem bei zeitkritischen Fällen wie Herzinfarkt, Schlaganfällen oder bei schweren Verletzungen wichtig ist.
Dank modernster Ausstattung wie einem Ultraschallgerät im Handyformat können die Notärzte schon am Einsatzort gründlich untersuchen. „Allerdings wägen wir Transporte immer sehr genau ab“, erklärt Loske. „Ist ein Patient bei unserer Ankunft beispielsweise schon an das Beatmungsgerät im RTW angeschlossen, würden durch den Wechsel an unsere Geräte bis zu 20 Minuten verloren gehen.“ Loske gehört seit Eröffnung des Stützpunkts zum Team. Sie hat, um mitfliegen zu dürfen, eine mehrwöchige Schulung absolviert und musste zudem mehrjährige Erfahrung als Notärztin im Rettungsdienst vorweisen. „Ärztin ist mein Traumjob – aber ich habe auch mal überlegt, Pilotin zu werden. Jetzt kann ich beides vereinen“, erzählt sie. Dafür nimmt sie auch stressige Tage in Kauf: „Vorgestern waren es zwölf Einsätze bis Sonnenuntergang – und danach müssen diese ja auch noch dokumentiert werden. Feierabend ist an solchen Tagen dann erst spätabends.“ Auch an diesem Sonntag vergeht die Zeit sprichwörtlich wie im Flug – noch mehrere Male muss die Crew bis Sonnenuntergang ausrücken. Doch egal wie stressig es wird: Das Team behält die gute Laune und ist auf den Punkt hochkonzentriert, sobald der Alarm geht. „Fliegen ist Teamwork – das funktioniert nur, wenn die Atmosphäre auch am Boden stimmt“, unterstreicht Langner. Draußen ist es mittlerweile dunkel und der Hubschrauber steht im Hangar. Ein letzter gründlicher Check, bevor auch der Pilot sagen kann: „Dienstschluss.“