Sind 1,0-er die besseren Ärzte?

Auch laut der neuen Zulassungsregelung ist die Abiturnote das wichtigste Kriterium für einen Studienplatz in Medizin. Ist das sinnvoll?

WAS ÄNDERT SICH?

Bislang wurden 20 Prozent der Medizinstudienplätze über den Numerus clausus (NC) vergeben, 20 Prozent über eine Warteliste und 60 Prozent der Studenten wurden von den Hochschulen selbst ausgesucht.

Zum Sommersemester 2020 wurde die Wartezeitquote abgeschafft, die Abiturbestenquote stieg dafür von 20 auf 30 Prozent. Über eine so genannte Eignungsquote sollen künftig 10 Prozent der Studienplätze vergeben werden. Diese berücksichtigt nur Kriterien unabhängig vom NC wie medizinische Ausbildungen oder Freiwilligendienste. 60 Prozent der Studienplätze vergeben die Universitäten in Zukunft nach drei eigenen Kriterien, von denen zwei schulnotenunabhängig sein müssen. Pflicht ist ein standardisierter Test. Daneben können Auswahlgespräche, Ausbildungen oder soziales Engagement gewertet werden.

Studieninteressierte müssen zudem künftig keine Ortspräferenzen mehr angeben, sondern können sich an beliebig vielen Hochschulen bewerben.

PRO

Die Abiturnote garantiert, dass ein Bewerber die intellektuellen Voraussetzungen für den Arztberuf erfüllt.

PROF. DR. SUSANNE LIN-KLITZING
Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes

Ein guter Abiturient wird sein Studium meistens besser abschließen als ein Abiturient mit schlechter Abiturnote. Das ist empirisch belegt. Kein anderes Auswahlkriterium sagt den Studienerfolg so sicher voraus. Daher finde ich es richtig und wichtig, der Abiturnote im Bewerbungsverfahren gerade zu einem solch anspruchsvollen Studium wie dem Medizinstudium so viel Gewicht zu geben. Auf sie zu verzichten, wäre geradezu absurd. Natürlich ist ein guter Student nicht automatisch ein guter Arzt. Aber jeder, der Arzt werden will, muss eben erstmal ein Medizinstudium erfolgreich absolvieren. Es ist also sinnvoll, die Bewerber auszuwählen, die diesen ersten notwendigen Schritt mit der größten Wahrscheinlichkeit bewältigen. In dieser Hinsicht war es auch richtig, die Wartezeitquote abzuschaffen. Denn die meisten Studenten, die später im Physikum durchfallen, stammen nachgewiesenermaßen aus dieser Bewerbergruppe.
Eine sehr gute Abiturnote garantiert also, dass ein Bewerber die intellektuellen Voraussetzungen für den Arztberuf erfüllt. Weitere Voraussetzungen werden über das hochschuleigene Auswahlverfahren ermittelt. Hier plädiere ich für eine Kombination aus Abiturnote, Eignungstest und medizinischer Vorerfahrung. Ein standardisierter Test wie der Medizinertest kann gezielt medizinisches Wissen und Denken abfragen. Eine Ausbildung oder ein Freiwilligendienst im Gesundheitswesen zeigen, dass ein Bewerber praktische Erfahrung hat und eine hohe Motivation für den Beruf mitbringt. Statt eine neue „Talentquote“ von zehn Prozent einzuführen, hätte ich lieber den Anteil der Studienplätze, die über das hochschuleigene Verfahren verteilt werden, von 60 auf 70 Prozent erhöht. Wer kein Abitur gemacht hat und später dennoch Medizin studieren will, dem würde ich sagen: Wenn du hochmotiviert für diesen Beruf bist, hole im ersten Schritt das Abitur nach. Meine Wunschregelung wäre also 30 Prozent Abiturbestenquote und 70 Prozent über das hochschuleigene Verfahren mit drei Faktoren, von denen eine die Abiturnote ist. Mit dem neuen Zulassungsverfahren bin ich aber schon relativ zufrieden.

KONTRA

Wollen wir Mediziner, die gut studiert haben? Oder solche, die gute Ärztinnen und Ärzte werden?

JOHANNES STALTER
Stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses Medizinstudierende im Hartmannbund

Wer sich ohne Spitzen-Abi für ein Studium der Humanmedizin bewirbt, musste zuletzt 14 Wartesemester in Kauf nehmen, um einen Studienplatz zu bekommen. Um diese absurde Situation zu ändern, wurde mit der Reform des Zulassungsverfahrens die Wartezeitquote abgeschafft. Aber was wurde an ihre Stelle gesetzt? Ein System, das die Abiturnote noch höher gewichtet als das vorherige. Dabei ist sie kein gutes Kriterium. Zwar sagt die Note verlässlich den späteren Studienerfolg voraus. Aber wollen wir Medizinstudierende, die gut studiert haben? Oder lieber solche, die später gute Ärztinnen und Ärzte werden und auch in die Versorgung gehen? Hier sollte die Abiturnote nicht das Hauptkriterium sein, auf das wir uns verlassen.
Abiturnoten haben als Kriterium gleich mehrere Probleme. Zum einen sind sie nur scheinbar vergleichbar. Dafür sind die Unterschiede zwischen den Bundesländern zu groß. Und auch zwischen Stadt und Land: In der Stadt machen mehr Schüler das Abitur als auf dem Land, und auch noch das bessere. Abiturnoten hängen zudem mit der sozialen Herkunft zusammen. Das heißt: Wir fördern ein Kriterium, das sozial ungerecht ist.
Zum anderen kann die Note im Nachhinein nicht mehr geändert werden. Menschen, die mit 17 nicht sehr fleißig waren, aber mit 20 ihr Talent für die Medizin entdecken, haben also keine Chance mehr, daran später etwas zu ändern. Dabei wäre jemand, der etwa schon zwei Jahre in der Pflege gearbeitet hat, in der interprofessionellen Zusammenarbeit sicher im Vorteil. Wir vom Hartmannbund plädieren dafür, alle Studienplätze nach einem 33-Prozent-Modell zu verteilen, das die Abiturnote nur zu einem Drittel wertet. Zusätzlich könnten die Bewerber in einem standardisierten schriftlichen Test und in einem mündlichen Auswahlgespräch Punkte sammeln. Dieses Verfahren sollte nach Abzug der Quoten – etwa für Migranten oder Sanitätsdienstleistende – angewendet werden. Der Mehraufwand wäre überschaubar. Und das Verfahren allemal zielführender, als einen großen Teil der Studienplätze allein anhand einer Zahl zu vergeben.