Mord oder Totschlag?

Sie decken Verbrechen auf oder finden ärztliche Kunstfehler: Medizinische Gutachter sind für die Wahrheitsfindung vor Gericht unverzichtbar. Aber manche hadern auch mit der Justiz.

Wenn Prof. Dr. Marcel A. Verhoff von seinen Studierenden gefragt wird, wie er mit all den Verbrechen, Unglücksfällen und traurigen Schicksalen zurechtkommt, mit denen er täglich zu tun hat, bleibt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt gelassen. „Wenn Leute bei uns auf dem Obduktionstisch landen, dann ist vieles sehr, sehr ungünstig gelaufen.“ Das dürfe man sich als Mediziner aber auf keinen Fall zu Herzen nehmen, sagt der Experte für forensische Osteologie. Verhoff ist einer der prominentesten Vertreter einer Zunft, zu der eigentlich alle Mediziner zählen: Nach der Zivilprozess- und Strafprozessordnung sowie der ärztlichen Berufsordnung ist in Deutschland jeder approbierte Arzt und Zahnarzt verpflichtet, auf Anfrage eines Gerichts ein Sachverständigengutachten zu erstellen. Oft geht es dabei um die Beurteilung des Gesundheitszustands eines Angeklagten oder um Fehlbehandlungen von Kollegen. Manchmal aber auch um Mord oder Totschlag.

Kaum ein Strafrechtsprozess erregte in der jüngeren Vergangenheit so viel Aufsehen wie der Tod von Tuğçe Albayrak auf einem Parkplatz in Offenbach im November 2014. Die Studentin starb nach einer Ohrfeige an schweren Schädel- und Hirnverletzungen. Der mutmaßliche Täter war schnell gefunden, Überwachungskameras filmten den Schlag eines jungen Mannes. Für die Öffentlichkeit war der Fall glasklar – der mutmaßliche „Killer“ und „Komaschläger“ sollte für einen Mord büßen. Die mediale Vorverurteilung des damals 18-Jährigen war in vollem Gange. Verhoff und sein Team mussten das alles ausblenden. „Objektiv bleiben und Distanz wahren“ lautet das Credo in der Rechtsmedizin. Gerade dann, wenn die Gesellschaft nach einem Schuldigen giert. So wie im Fall Tuğçe Albayrak.

Für sie ging es um die Frage: Was hat konkret den Tod ausgelöst? Das Gutachten brachte ein schrecklich banales Resultat ans Licht. „Die Ohrfeige war nicht besonders hart. Tuğçe fiel jedoch so unglücklich, dass sie beim Aufprall auf den Boden auf einen Gegenstand schlug, der sich in ihren Schädel bohrte, wahrscheinlich war es sogar ihr eigener Ohrring“, blickt Verhoff auf eine tragische Kettenreaktion zurück. Das Landgericht Darmstadt berücksichtigte diesen Aspekt bei der Urteilsfindung: drei Jahre Jugendstrafe für den Täter wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Ein gerechtes Urteil? „Es liegt nicht an mir, das zu bewerten“, sagt Verhoff. „Ich will anhand von Fakten die Wahrheit finden. Für Gerechtigkeit sind dann die Gerichte zuständig.“ Dass er dazu seinen Beitrag leisten kann, erfülle ihn allerdings mit großer Zufriedenheit.

GERÜSTE AUFBAUEN MIT GEBROCHENEN ARMEN?

Foto: Barbara Langer

Auch die Orthopädin und Unfallchirurgin Dr. Christine Rohden ist auf medizinische Gutachten spezialisiert. Sie waren Mitte der 90er Jahre Bestandteil ihrer Ausbildung in einer Bottroper Klinik. Ein Fall vor einem Sozialgericht rüttelte damals stark an ihrem Gerechtigkeitsempfinden: Bei einem Sturz zog sich ein junger Gerüstbauer schwere Verletzungen zu. Der Familienvater erlitt beidseitig einen offenen Fersenbeinbruch, dazu weitere Frakturen an den Armen. Obwohl er schon auf den ersten Blick ersichtlich nicht mehr in seinem Beruf arbeiten konnte, galt er für seine Berufsgenossenschaft als „vollständig einsetzbar“. Vier Jahre prozessierte der Mann für die Finanzierung einer Umschulung und musste währenddessen von Sozialhilfe leben. Schuld daran waren mangelhafte Vorgutachten, bei denen der Geschädigte nie richtig untersucht worden war. Welchen harten körperlichen Anforderungen ein Gerüstbauer ausgesetzt ist, fand ebenfalls keinerlei Berücksichtigung. „Mit dem Fall hatte ich Blut geleckt und festgestellt: Es macht mir einfach Spaß, mich durch Akten zu wühlen und medizinische Zusammenhänge herauszufinden, selbst wenn sie schon Jahre zurückliegen."

Spektakuläre Kriminalfälle wie in der Rechtsmedizin sind allerdings bei ihr und den meisten medizinischen Gutachtern eher selten. Bei ihr auf der Tagesordnung: Berufs- und Arbeitsunfähigkeit, Haftpflichtfälle und Rentenentscheide oder auch mutmaßliche Behandlungsfehler ihrer Kollegen. In der Regel erhält sie ihre Aufträge von Richtern, seltener von den Klägern. Eine eiserne Regel lautet dabei immer: Behandle nie einen Patienten, den man auch begutachtet. „Wenn man vor Gericht erstmal als befangen gilt, hat man ein Problem“, erklärt sie. Doch es lauern noch weitere Herausforderungen bei Prozessen. Dazu gehören vor allem die Anwälte der Anspruchsteller. Deren Job ist es, die Gutachten der Gegenseite in Zweifel zu ziehen. Viele schießen dabei über das Ziel hinaus und greifen Sachverständige mitunter auch persönlich an. „Wenn man anfängt, solche Spielchen mitzuspielen und sich auf Provokationen einzulassen, hat man verloren“, sagt Rohden. „In der Regel weisen die Richter allzu vorlaute Anwälte in ihre Schranken, aber eben nicht immer. „Dann heißt es trotzdem: Cool bleiben!“ Als Ausbilderin versucht sie, diese Coolness Kollegen im Rahmen von Fortbildungen zu vermitteln. Dass das Thema außerhalb der Rechtsmedizin immer noch nicht Bestandteil des Medizinstudiums ist, sondern die Kenntnisse erst während der Facharztausbildung nebenher vermittelt werden, sei ein Manko. Der hippokratische Eid verpflichtet Mediziner zu begutachten. Aber nur wenige seien darauf gut vorbereitet. „Junge Mediziner haben Glück, wenn sie an Kliniken mit Ärzten zusammenarbeiten, die sich für das Thema interessieren“, meint die Kölnerin. „Falls nicht, leidet die Qualität der späteren Gutachten sehr darunter.“

DIE RICHTIGEN FRAGEN STELLEN

An fehlender Qualität stört sich auch Dr. Hanna Ziegert immer wieder. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychoanalytikerin war über 30 Jahre als forensische Gutachterin tätig. „Besonders in Notlagen handeln Menschen nicht mehr rational, sondern nahezu ausschließlich emotional. Bei der gutachterlichen Befragung im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte erfährt und lernt man viel über die Psyche, das ist immer wieder faszinierend“, sagt Ziegert. Zu ihrer Arbeit gehört die Feststellung der Schuldfähigkeit. Also: Ist der Angeklagte psychisch krank und kann er trotzdem Verantwortung für seine Tat übernehmen? Häufig geht es bei ihren Fällen um schwere Straftaten wie Tötungs- oder Sexualdelikte. Für ihre Diagnostik stehen ihr nur zwei Untersuchungsmittel zur Verfügung: eine gute Beziehung zum Beschuldigten aufbauen und die richtigen Fragen stellen.

Generell bereite ihr ein Punkt Sorge: Die Justiz benenne gerade in öffentlichkeitswirksamen Fällen oftmals psychiatrische Gutachter, bei denen sie sicher sein könne, ihr „Wunschergebnis“ zu bekommen. Als Beispiel nennt sie den Fall Gustl Mollath, der vor einigen Jahren bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Ihm wurden schwere Körperverletzung und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Durch falsche Beschuldigungen und fehlerhafte Gutachten wurde er in der Psychiatrie untergebracht. Erst nach sieben Jahren konnte er 2013 seine Freilassung erwirken. Der Fall Mollath zeige, „wie schnell aus gewünschten Ergebnissen Fakten werden“, glaubt Ziegert. Komme der Gutachter zu einem Resultat, das vom von der Justiz erwarteten Bild des Angeklagten abweicht, könne es zudem sein, dass er keine weiteren Aufträge mehr bekomme. Tatsächlich ergab eine Studie der Universität München aus dem Jahr 2014, dass jeder vierte befragte medizinische Gutachter von der Justiz zuvor eine Tendenz signalisiert bekommen hatte, unter den Psychiatern war es jeder dritte, bei den Psychologen gar die Hälfte. Ziegert fordert deshalb ein unabhängiges System der Auftragsvergabe für Gutachter auf anonymer Basis. Nur so könne gewährleistet werden, dass medizinische Gutachten neutral seien. „Und nur so kommen wir letztlich der ‚Wahrheit‘ über einen Täter ein Stück näher.“

„MÄRCHENSTUNDE“

Keine ärztliche Disziplin macht so sehr in Filmen und Literatur von sich reden, wie die Rechtsmedizin. Prof. Dr. Marcel A. Verhoff weiß warum. 

Prof. Verhoff, wieso ist die Rechtsmedizin so ein großes Thema in den Medien?
Daran sind wir Rechtsmediziner nicht ganz unschuldig. Ende des letzten Jahrtausends wurden einige Institute geschlossen. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin hat damals die Öffentlichkeit gesucht, um zu zeigen, wie wichtig es ist, bei Todesfällen ganz genau hinzuschauen. Seitdem rückt das Thema immer mehr ins Bewusstsein. Wir hatten das Glück, dass wir auf der Krimiwelle mitsurfen konnten.

Sie selbst tragen mit Ihrem Hobby tatkräftig dazu bei.
Ja, ich helfe Krimiautoren wie Jan Seghers oder Nele Neuhaus, aber auch Drehbuchschreibern, ihre Geschichten plausibel zu inszenieren. Ich habe auch beim Münster-„Tatort“, beim Frankfurter „Tatort“ und beim „Fall für zwei“ schon beraten.

Welche Fragen beantworten Sie da?
Es kann dann schon sein, dass ich am Set bin und Jan Josef Liefers Tipps gebe, wie er als Rechtsmediziner Boerne möglichst authentisch rüberkommt, oder der Maske zeige, wie eine Leiche geschminkt sein muss.

Wie nah kommt die Fiktion an die Realität heran?
Fernsehkrimis können schon ziemlich echt wirken, wenn die Regisseure ein paar No-Gos vermeiden: Rechtsmediziner ermitteln zum Beispiel niemals heimlich auf eigene Faust oder untersuchen einen Tatort in Privatkleidung. Auch von der exakten Bestimmung eines Todeszeitpunkts sind wir noch weit entfernt. Wenn ein Krimimediziner den auf die Minute benennen kann, beginnt die Märchenstunde.