Der Mann aus dem Meer hatte hohe Wangenknochen und eine breite Nase. Er starb, so zeigt es die C14- Isotopen-Analyse seiner Knochen, vor etwa 650 Jahren, zu genau der Zeit also, als eine große Sturmflut auf die nordfriesische Küste rollte. Wie das Schleswiger Stadtbuch berichtet, versanken in jener „Groten Mandränke“ vom 15. bis 17. Januar 1362 mehr als „30 Kirchen und Kirchspiele“ im Meer, ebenso die Stadt Rungholt, das legendäre „Atlantis der Nordsee“. Die Flut machte aus dem Küstenstreifen zwischen Sylt und Eiderstedt den Archipel aus Inseln und Halligen, den wir heute kennen. Gelangte der Schädel des Hochwangigen, über den 1925 ein Forscher im Husumer Watt stolperte, damals ins Meer?
Keine Quelle erwähnt seinen Namen. Nichts blieb von den Tausenden, die damals ertranken. Nur von dem Mann aus dem Watt wissen wir seit kurzem genau, wie er aussah: wie schön symmetrisch seine Augen zueinander standen, wie hoch sich seine Mundwinkel beim Lachen zogen und dass er erst Mitte 20 war, wie seine Schädelnähte verraten. All das hat Constanze Niess seinen Gesichtsknochen entlockt.
Es ist ein sonniger Spätherbsttag, als die Rechtsmedizinerin einer Gesichtsskulptur sanft über die knetweiche Haut streichelt. Es ist nicht der hochwangige Friese – der wird aktuell im Nordseemuseum in einer Ausstellung über Rungholt gezeigt. Es ist das Gesicht eines Mannes, dessen Schädel vor Jahren in einem Waldstück bei Frankfurt gefunden wurde. Er wurde nie identifiziert. Bis heute hat er dafür einen Ehrenplatz in Niessʼ Büro im Frankfurter Institut für Rechtsmedizin.
Niess ist die einzige Medizinerin Deutschlands, die sich auf die Rekonstruktion von Gesichtern spezialisiert hat. An ihre Tür hat sie einen Cartoon gepinnt: das Bild eines Cowboys, in dessen Revolverholster ein Föhn steckt. „Im selben Moment kommt Djangos Ehefrau bei einem tragischen Haushaltsunfall ums Leben“, steht darunter. Rechtsmedizinerhumor. Wer einen Job hat wie Niess, darf sich seinen Humor nicht nehmen lassen. Mit 20 bis 30 „vollendeten Tötungsdelikten“ müssen sie und ihre Kollegen in Frankfurt sich jedes Jahr beschäftigen. Hinzu kommen Hunderte Gewaltverbrechen, bei denen die Gerichtsmediziner oft sowohl Täter als auch Opfer untersuchen, um den Tathergang zu klären.
Als Studentin habe es sie erst zur Chirurgie hingezogen, sagt die 48-Jährige. „Aber Frauen und Operieren, das ging damals gar nicht.“ Auch andere Stellen waren in Zeiten der Medizinerschwemme dünn gesät. Schließlich standen eine in der Kardiologie und eine in der Rechtsmedizin zur Debatte. Was reizt eine Ärztin, lieber mit Leichen als mit Lebenden zu arbeiten? Niess lacht. „Man hat in der Rechtsmedizin viel mit Lebenden zu tun – mit Juristen, Polizisten, auch mit Kinderärzten und Chirurgen, wenn es um Misshandlungen geht.“ Vor allem aber habe man Abwechslung: „Ich muss nicht jeden Morgen auf Station dieselben 20 Zimmer besuchen.“ Stattdessen: Tatort-Begehung im Odenwald, Sektion in Frankfurt, Gerichtstermin in Bad Homburg. „Ich bin immer unterwegs.“
Zu ihrem „beruflichen Hobby“, wie Niess die Gesichtsrekonstruktion nennt, komme sie oft erst zu Hause nach Feier- abend. Nur wenn die Polizei in einem aktuellen Fall Hilfe braucht, greift sie auch als Rechtsmedizinerin zum Plastilin (siehe Kasten). Trotzdem sieht ihr Büro aus wie ein Schädelkabinett: Auf einem Konferenztisch liegt eine Schachtel mit Glasaugen. Daneben steht ein Kopf, der auf einer Holzplatte verschraubt ist. Aus einem Regal lugen drei weitere lebensechte Gesichter in den Raum.
Mit der Rekonstruktion von Gesichtern kommt die junge Ärztin im Jahr 2000 in Kontakt. Auf einer Fortbildung in Washington hört sie einen Vortrag von Karen Taylor, einer der Koryphäen auf diesem Gebiet. Niess ist fasziniert und meldet sich gleich für den Nachfolgekurs an. Und dann stehen im Institut in Frankfurt plötzlich zwei Papiertüten voller Knochen auf ihrem Seziertisch. „Human oder nicht human?“, will die Polizei wissen. Es stellt sich heraus, dass sie einem Mann um die 50 gehörten. Polizisten durchkämmen den Wald, in dem sie gefunden wurden, vernehmen Anwohner, ohne Erfolg. Niess bekommt die Erlaubnis, den Schädel mit zur Fortbildung nach Oklahoma zu nehmen. Sie will darauf ihr erstes Gesicht rekonstruieren.
Der Frankfurter Flughafen, kurz nach dem 11. September 2001. Als der Sicherheitsbeamte Constanze Niess bittet, ihr Gepäck zu offnen, bleibt ihr fast das Herz stehen. „Zum Glück wollte er nur mein Handgepäck sehen“, erinnert sie sich. Der Totenschädel, mit Socken ausgestopft, reist unbehelligt über den Atlantik. Und kommt zurück mit einem Antlitz aus Plastilin. Die Polizei veröffentlicht das Foto, eine Exfreundin erkennt den Toten wieder. Als Niess später ein echtes Bild des Mannes in den Händen hält, läuft ihr ein Schauer über den Rücken: „Die Ähnlichkeit war tatsächlich vorhanden.“
Die plastische Arbeit sei eine Mischung aus Wissenschaft und Kunst, erklärt Niess. Die Augenhöhle, die Weite der Nasenöffnung, die Ausprägung des Unterkiefers: All das ist beim Menschen durch knöcherne Strukturen festgelegt. Aber ob jemand eine gesunde Gesichtsfarbe hatte oder Pickel, einen Vollbart oder Schlupflider – am Schädel allein lässt sich das unmöglich ablesen. Trotzdem legt die Medizinerin am Ende einer 50- bis 60-stündigen Rekonstruktion noch einmal Hand an, tupft Rouge auf, zieht Falten, legt sich auf eine Haarfarbe und Frisur fest. „Man muss einem Gesicht einen lebendigen Funken einhauchen“, erklärt sie. „Täte ich das nicht, würde nur eine starre Maske entstehen.“
Manchmal nimmt sich die Gesichtsmacherin auch mehr Freiheiten. Gerade bei historischen Rekonstruktionen, für die sie nicht von der Polizei, sondern von Museen beauftragt wird. Dem Mann aus dem Meer etwa hat Niess einen Friesenbart verpasst – jene dünne Haarlinie, die sich vom Kinn zu den Ohren zieht und die Oberlippe frei lässt. Eine Kuratorin des Nordseemuseums, in dem der Kopf aktuell ausgestellt wird, habe sie auf die Idee gebracht. Die ältesten Gesichter, die sie bislang rekonstruiert hat, gehörten einem Paar, das vor rund 14.000 Jahren gelebt hat. Eiszeitjäger, die heute in einem Bonner Museum gezeigt werden. Das neueste Antlitz ist das einer Frau, deren Skelett kürzlich in einem Wald bei Bergisch Gladbach gefunden wurde – sie ist Niess’ Rekonstruktion Nummer 28. Auch Nummer 29 ist schon in Planung: „Ich habe eine Anfrage aus Sinzig am Rhein. Dort gibt es eine Mumie, die seit Jahrhunderten in einem Glasschrein liegt.“ Dieser Tote soll bald wieder ein Gesicht bekommen.
Zwei Fragen muss man dieser gut gelaunten Ärztin in ihrem Schädelkabinett noch stellen. Was macht der allgegen- wärtige Tod mit einem? „Man setzt sich mit dem eigenen Sterben auseinander. Und ich bin vorsichtiger geworden im Straßenverkehr.“ Macht sie sich manchmal Gedanken über die Toten? „Ein bisschen. Über den Rungholter zum Beispiel denke ich: Der war bestimmt ein fröhlicher Seemann.“ Wer genau hinschaut, kann auf seinem Gesicht noch den Anflug eines Lächelns erkennen. Heute, 654 Jahre nach seinem Tod.
Als Erstes kommen Glasaugen in die Höhlen – in einer späteren Phase wäre sonst die Knetmasse im Weg. Als Nächstes setzt die Rekonstrukteurin Weichteil-Abstandsmarker auf: kleine Gummistifte, mit denen die Dicke des Gewebes an 34 definierten Stellen bestimmt wird. Die Maße sind ein Mittelwert aus wissenschaftlichen Messreihen. Dann beginnt die Arbeit mit dem Plastilin: Schicht für Schicht gewinnt der Schädel seine Weichteile zurück. Am Schluss steht die künstlerische Phase: Über Haarfarbe und Hautstruktur kann man schließlich nur spekulieren.
In einer Ausstellung über die unter- gegangene Stadt Rungholt zeigt das Nordseemuseum Husum noch bis Ende Januar auch das von Constanze Niess rekonstruierte Gesicht eines Friesen.